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Rechtsruck in Frankreich abgewendet, aber Unsicherheit bleibt

Polarisiert wie niemals zuvor in der jüngeren Geschichte des Landes, steckt Frankreich, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union (EU), seit den Wahlen zum Europäischen Parlament in einer tiefen politischen Krise. Nachdem Staatspräsident Emmanuel Macron als Reaktion auf das enttäuschende Abschneiden seines Parteienbündnisses Ensemble eine Neuwahl der Nationalversammlung5 ausgerufen hatte und der rechtspopulistische Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und seine Verbündeten in der ersten Runde der Wahl zur Nationalversammlung zur (vorübergehend) stärksten politischen Kraft des Landes aufgestiegen war, konnte eine absolute Mehrheit für den RN durch ein breites demokratisches Bündnis im zweiten Wahlgang abgewendet werden. Stärkste Kraft wurde überraschend das Linksbündnis Neue Volksfront, vor dem Mitte-Lager von Macron. Der RN landete nur an dritter Stelle, allerdings konnte er die Zahl seiner Mandate deutlich steigern. Das Ergebnis der Parlamentswahl sorgt also erstmal nicht für „klare Verhältnisse“ – entgegen der Intention, die Macron nach der Auflösung der Nationalversammlung zum Ausdruck gebracht hatte. Er steht nun vor der Aufgabe, in der zersplitterten französischen Parteienlandschaft eine stabile Regierungsmehrheit zu finden. Wir wollen allerdings weniger die politische Dimension der jüngsten Entwicklungen6 als vielmehr deren Implikationen für Wirtschaft sowie Kapitalmärkte in den Blick nehmen.

Märkte reflektieren Sorge um die politische und finanzielle Stabilität in Frankreich

Wenig überraschend ließ die Sorge um die politische Stabilität in Frankreich im Vorfeld der vorgezogenen Parlamentswahl die wirtschaftspolitische Unsicherheit im Juni auf ein Zwei-Jahres-Hoch steigen. Entsprechend legten auch die Renditen französischer Staatsanleihen (OATs) insbesondere im Vergleich zu denen deutscher Bundesanleihen (Bunds) deutlich zu: Vor der Neuwahlankündigung lag die Renditedifferenz bei 10-jährigen Renten (OAT-Bund-Spread) bei rund 45 Basispunkten (Bp), bevor sie sich nahezu verdoppelte (siehe Grafik 1). Sie erreichte damit den höchsten Stand seit der europäischen Staatsschuldenkrise im Jahr 2011. Gegenüber dem Niveau nach der ersten Wahlrunde hat sich der OAT-Bund-Spread aber mittlerweile wieder deutlich eingeengt, was darauf hindeutet, dass die Besorgnis der Anleger nachgelassen hat. Am Aktienmarkt hinterließen die jüngsten Ereignisse ebenfalls deutliche Spuren. Zwar hat sich der französische Leitindex CAC 40 von seinem Tief infolge von Macrons Wahlankündigung ein Stück weit erholt, hinkt seit Jahresbeginn den Leitindizes anderer europäischer Länder aber deutlich hinterher (Stand: 19.07.2024, siehe Tabelle).

Die Sorgen von Anlegern und Investoren, dass eine zukünftige Regierung in Frankreich eine neue Euro-Schuldenkrise auslösen könnte, sind mit dem Ausgang der Wahl deutlich kleiner geworden. Die Erfahrung lehrt ohnehin, dass die Märkte die Aussicht auf eine verantwortungslose Ausweitung der öffentlichen Ausgaben und mangelhafte Finanzdisziplin unmittelbar bestrafen. Im Jahr 2022 brach auf dem britischen Anleihemarkt eine Krise aus, als die damalige Premierministerin Liz Truss einen Haushalt vorlegte, der ungedeckte Steuersenkungen und Energie-Hilfsgeldern in Höhe von mehreren Milliarden Pfund vorsah, die Marktteilnehmer als „fiskalpolitisches Harakiri“ werteten. Die Renditen britischer Staatsanleihen schossen dramatisch in die Höhe, so dass sich die Bank of England gezwungen sah einzugreifen. Nach nicht einmal 50 Tagen im Amt musste Truss zurücktreten. Nach dem Erdrutschsieg der Labourpartei am 4. Juli ist nun auch ihre Karriere als Parlamentarierin im Unterhaus vorbei.

Tatsächlich ist die Tragfähigkeit der französischen Schulden nicht erst jetzt Gegenstand der Diskussionen. Macron ist es bislang nicht gelungen, die Staatsverschuldung einzudämmen. Schon vor der Europawahl hatte die Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit Frankreichs um eine Stufe von AA auf AA- herabgestuft, in der Befürchtung, dass die Schulden durch die höher als erwarteten Defizite in die Höhe getrieben würden. Frankreichs Staatsverschuldung stieg im vergangenen Jahr auf fast 111 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das Haushaltsdefizit des Landes lag mit 5,5 % weit über dem von der Europäischen Untion (EU) festgelegten Zielwert von 3 %. Die Zinslast Frankreichs hat sich seit 2021 mehr als verdreifacht, auf 57 Mrd. Euro in diesem Jahr. Das Land wies 2023 außerdem das höchste Primärdefizit7 unter den Mitgliedsstaaten des Euroraums auf, während eine Reihe von Peripherieländern ihre entsprechenden Defizite verringern konnten (siehe Grafik 2). Dass die EU-Kommission gegen Frankreich ein Defizitverfahren anstrebt, verdeutlich den geringen finanziellen Spielraum des Landes. Hinzu kommt, dass das französische Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren eher schwach war und das Pro-Kopf-BIP Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge auch in den kommenden fünf Jahren hinter dem der USA und Deutschlands zurückbleiben wird.

Über die schlechte fundamentale Lage hinaus könnte sich auch die Investorenstruktur bei französischen Staatsanleihen als nachteilig erweisen. Statistiken des IWF zufolge halten ausländische Nichtbanken (darunter Hedgefonds, Versicherungen, Geldmarktfonds und Pensionsfonds) inzwischen mehr als ein Viertel der gesamten französischen Staatsschulden (siehe Grafik 2). Zwar sind die französischen Großbanken permanent auf dem Markt für Staatsanleihen aktiv; gleichwohl hat – anders als etwa in Deutschland – eine eher kleine Anzahl von (ausländischen) Kreditoren damit potenziell großen Einfluss auf den französischen Rentenmarkt.

In der Diskussion sollte aber nicht vergessen werden, dass sich der (geld)politische Rahmen des Euroraums weiterentwickelt und verbessert hat. Der EZB steht, anders als vor rund 15 Jahren, ein „Werkzeugkasten“ zur Verfügung, der ihr faktisch jederzeit das Recht zu Eingriffen in die Anleihemärkte einräumt. Mit dem „Instrument zur Absicherung der geldpolitischen Transmission“ (Transmission Protection Instrument, TPI), das noch einfacher einzusetzen ist als das Vorgängerkonzept8, kann das Eurosystem im Falle ungerechtfertigter, ungeordneter Marktentwicklungen Wertpapiere aus einzelnen Ländern ankaufen, um gegen eine Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen, die nicht durch länderspezifische Fundamentaldaten gerechtfertigt ist, anzugehen. Der Umfang von Ankäufen im Rahmen des TPI, die am Sekundärmarkt9 stattfinden und auf Anleihen des öffentlichen Sektors10 fokussiert sind, hängt dabei von der Schwere der Risiken für die geldpolitische Transmission ab. Anleihekäufe sind ex ante nicht begrenzt, allerdings setzt die Anwendung des TPI voraus, dass die betreffenden Länder die EU-Vorgaben zu den Staatshaushalten erfüllen – mit Blick auf Frankreich ein entscheidender Punkt. EZB-Chefvolkswirt Philip Lane kommentierte die Bewegungen auf dem französischen Anleihemarkt nämlich mit den Worten, diese erschienen nicht „ungeordnet“. Damit sei eine der notwendigen Bedingungen für eine Intervention der Zentralbank nicht erfüllt. Nichtsdestotrotz erachten wir es als nicht unwahrscheinlich, dass die EZB eingreift, wenn Frankreich-spezifische Probleme auf andere Mitgliedsstaaten „überschwappen“ sollten.

Fazit

Während in Großbritannien der Erfolg der Labour-Partei11 Anfang Juli ungewöhnlich deutlich ausfiel und die Tories das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte erlebten, scheint das Risiko eines massiven politischen Umbruchs in Frankreich nach dem zweiten Wahlgang der vorgezogenen Parlamentswahl gebannt. Die politische Unsicherheit dürfte aber vorerst anhalten – und damit auch die Volatilität am französischen Finanzmarkt. Zwar sind sie die jüngsten Entwicklungen bereits eingepreist, und der OAT-Bund-Spread scheint seinen Höhepunkt überschritten zu haben. Eine weitere, allmähliche Verschlechterung der Kreditwürdigkeit Frankreichs würde aber höhere Risikoprämien für französische Staatsanleihen rechtfertigen. Denn finanzpolitisch betrachtet steht die neue französische Regierung trotz einer Reihe struktureller wirtschaftlicher Reformen vor großen Herausforderungen. Weitere fiskalische Lockerungen würden die angespannten Finanzen des Landes weiter unter Druck setzen, auch wenn die radikalen Ausgabenpläne der linken bzw. der rechten politischen Strömungen vom Tisch sein dürften. Französische Aktienwerte könnten es angesichts des überraschenden Sieges des Linksbündnisses unterdessen schwer haben, ihre diesjährige Underperformance im europäischen Vergleich wettzumachen. Die unklaren Verhältnisse im französischen Parlament könnten sich nachteilig auf die Investitionsfreude der Unternehmen bzw. die Verbraucherausgaben auswirken, wachstumsfördernde Reformen ausbremsen und damit die Erholung am französischen Aktienmarkt erschweren.

Trotz der Herausforderungen in Frankreich erachten wir das Risiko einer Neuauflage der Euro-Schuldenkrise insgesamt als sehr gering. Entscheidend dürfte sein, inwieweit eine neue französische Regierung bereit sein wird, die europäischen Fiskalregeln zu respektieren und sich auch der durch die Kapitalmärkte auferlegten Finanzierungszwänge bewusst ist. Davon ist trotz schwieriger Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung auszugehen.

Die Nationalversammlung ist eine von zwei französischen Parlamentskammern. Sie ist an der Gesetzgebung beteiligt und kann per Misstrauensvotum die Regierung stürzen. 

Eine Analyse der politischen Lage haben unter anderem unsere Kollegen von UniCredit Research vorgenommen.

Saldo aus Staatseinnahmen und primären Staatsausgaben (d.h. Ausgaben ohne Zinszahlungen): Übersteigen die Einnahmen die primären Ausgaben, so erwirtschaftet ein Land einen Primärüberschuss; sind die primären Ausgaben höher als die Einnahmen, spricht man von einem Primärdefizit.

Die Instrument der Outright-Geschäfte an den Sekundärmärkten für Staatsanleihen (OMT), das nach der Euro-Krise 2012 unter dem EZB-Präsidenten Mario Draghi eingeführt worden war.

Der Sekundärmarkt ist der Teilmarkt im Finanzwesen, auf dem bereits emittierte Finanzinstrumente gehandelt werden. Er ist der Gegenpart zum Primärmarkt, auf dem neue Finanzinstrumente in Umlauf gebracht werden.

10 Wertpapiere des Privatsektors können berücksichtigt werden, sofern dies angemessen erscheint.

11 Neuer Premier ist Keir Starmer, der mit Labour mit 411 der 650 Parlamentssitze die absolute Mehrheit errang. Die Tories erhielten nur 121 und die Liberaldemokraten 72 Sitze.