CIO Kommentar

Prinzip Unsicherheit: Wie die Marktdynamik inmitten geopolitischer Spannungen zu verstehen ist

Das Jahr 2024 neigt sich dem Ende entgegen und es ist bisher ganz anders verlaufen, als die Erwartungshaltung vieler Anleger und Investoren zum Ende des letzten Jahres vermuten ließ. Damals drehten sich viele Diskussionen um Rezessionsrisiken in den USA, während sich die Erwartungen hinsichtlich der europäischen Wirtschaft in Richtung einer moderaten Erholung nach einer längeren Durststrecke orientierten. So erwartete vor einem Jahr etwa ein Fünftel der globalen Research-Häuser (Volkswirte von Finanzunternehmen oder Analysten) eine technische Rezession1 in den USA im Jahr 2024, während diese Gruppe für Europa keine negativen Wachstumszahlen erwartete. Der wirtschaftliche Verlauf war dann tatsächlich deutlich anders als erwartet: Die US-Wirtschaft erwies sich als überraschend robust, während die europäische Schwächephase bis dato anhält.

Diese Entwicklung lässt sich anhand der Performance der globalen Anleihemärkte in diesem Jahr nachvollziehen. Die US-Rezessionssorgen manifestierten sich noch Ende des vergangenen Jahres unter anderem in der Hoffnung der Anleger auf baldige und deutliche Zinssenkungen seitens der US-Notenbank Federal Reserve (Fed), die eine Rally insbesondere bei US-Staatsanleihen auslöste. Starke US-Arbeitsmarktzahlen zerstreuten jedoch die Hoffnung auf rasche und umfangreiche Zinssenkungen, was in den ersten Monaten dieses Jahres wiederum zu deutlichen Kursverlusten bei Anleihen führte. Erst als sich tatsächlich Zinssenkungen abzeichneten, erholten sich die Anleihekurse.

Demgegenüber verzeichneten die Aktienmärkte vor allem in den USA erfreulich starke Kursanstiege – eine Entwicklung, die insbesondere die Pessimisten so nicht erwartet hätten. Dabei zeigten sich die Aktienmärkte nicht nur erstaunlich robust gegenüber den Rezessionssorgen, sondern auch gegenüber einer Reihe geopolitischer Risikofaktoren wie dem Krieg im Nahen Osten oder dem aus westlicher Sicht beängstigenden Verlauf des Krieges Russlands gegen die Ukraine. Insbesondere die jüngste Eskalation im Nahen Osten wäre noch vor einem Jahr wohl kaum mit einer zweistelligen Performance europäischer und amerikanische Aktienindizes und einem Ölpreis von deutlich unter 80 US-Dollar2 vereinbar gewesen (siehe Tabelle).

Hinsichtlich des oft zitierten „Wahlrisikos“ hat das Superwahljahr 2024 bereits einiges geboten: Neuwahlen der französischen Nationalversammlung und ein Wahlkrimi in Frankreich in Folge der Europawahl (mit im Ergebnis herausfordernden Mehrheitsverhältnissen im französischem Parlament), die drei Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern (mit nach wie vor unklarer Regierungsbildung), die von vielen erwartete Wiederwahl von Indiens Regierungschef Narendra Modi (bei der größten demokratischen Abstimmung der Welt), oder auch die jüngsten Nationalratswahlen in Österreich (welche die rechtspopulistische und euroskeptische FPÖ als stärkste Partei hervorbrachten). Das wichtigste politische Ereignis des Jahres, das auch die weitreichendsten Implikationen auf das Marktgeschehen haben dürfte, steht aber noch aus: die Präsidentschaftswahlen in den USA, die mindestens bis zum Wahltag spannend bleiben – nicht wenige politische Beobachter meinen auch in den Tagen und Wochen danach. Zuletzt haben die Siegchancen des früheren US-Präsidenten Donald Trump wieder zugenommen, was sich auch an den jüngsten Kursgewinnen von Aktien widerspiegelt, die vermeintlich von der Politik Donald Trumps profitieren könnten: traditionelle Energieunternehmen, Finanztitel und Gesundheitsaktien, denen eine wohl deregulierende politische Agenda Trumps zugutekäme. Unklar bleiben die mittel- und längerfristigen Auswirkungen einer möglichen zweiten Präsidentschaft Trumps. Nur schwerlich absehbar erscheint, welche der in Aussicht gestellten politischen Projekte dieser im Falle eines Wahlsieges tatsächlich verfolgen würde – und für welche er eine parlamentarische Mehrheit organisieren könnte. Dazu könnten Initiativen zählen, welche die Märkte begrüßen würden, wie insbesondere Steuersenkungen. Andere Maßnahmen könnten aber auch Verwerfungen nach sich ziehen wie die kolportierte Umstellung der US-Staatsfinanzierung von steuerbasierten auf zollbasierte Einnahmen des Staates. Ein solch drastischer Systemwechsel, dessen Umsetzung kaum realistisch erscheint, könnte erheblichen Schaden am internationalen Marktgefüge anrichten.

Bislang konnten alle genannten Risikofaktoren – auch diejenigen, die sich zumindest teilweise manifestiert haben wie der Krieg in Nahost – die positive Stimmung an den Kapitalmärkten nicht trüben. Der Grund hierfür liegt nicht nur in der Aussicht auf (weitere) substanzielle Zinssenkungen, welche die Wirtschaftsaktivität und gleichzeitig die globalen Finanzmärkte unterstützen sollten, sondern auch in der Zuversicht darauf, dass sich das sogenannte „Soft Landing“3 der US-Wirtschaft immer mehr als das wahrscheinlichste Szenario herauskristallisiert. Trotz aller Belastungen stützen die Aussicht auf ein weiterhin robustes Wirtschaftswachstum und, damit einhergehend, steigende Unternehmensgewinne die Märkte. Mit Blick auf den Boom rund um die Künstliche Intelligenz (KI) sind aktuell weder systemische Übertreibungen noch ein baldiges Ende der Entwicklung erkennbar. Klar ist aber auch, dass die durch KI ausgelöste Transformation sowohl Gewinner als auch Verlierer hervorbringen wird. In der nächsten Phase wird es nicht nur um die direkt von KI betroffenen Hard- und Softwarehersteller gehen (also solche Unternehmen die KI-Chips und Algorithmen anbieten), sondern auch darum, welche Geschäftsmodelle und Unternehmen durch den Einsatz der KI-Technologie einerseits einen positiven Effekt erzielen und welche andererseits obsolet werden dürften. Anleger sollten daher wachsam bleiben.

Alles in allem bleibt das Marktumfeld angesichts einer in Richtung des Zentralbankziels von 2 % tendierenden Inflation, fallenden Zentralbankzinsen, widerstandsfähiger Arbeitsmärkte beiderseits des Atlantiks und einer robusten US-Wirtschaft als globaler Wachstumslokomotive also konstruktiv. Aktien, insbesondere US-Werte, könnten in den kommenden Monaten weiterhin gefragt bleiben, während auf der Rentenseite der Ausgang der US-Wahlen abzuwarten bleibt. Auch wenn die US-Wirtschaft in guter Verfassung ist, kann eine Diversifikation des Risikos über verschiede Anlageklassen hinweg dazu beitragen, das Risiko zu reduzieren. US-Aktien sind sowohl im internationalen Vergleich als auch im historischen Kontext relativ hoch bewertet. Daraus könnten Volatilitätsrisiken entstehen. Wir setzen deswegen weiterhin auf eine neutrale Positionierung von Aktien. Dabei haben die im Vergleich zu den vergangenen fünf bis zehn Jahren hohen Kapitalmarktzinsen für Anleger und Investoren den angenehmen Nebeneffekt, dass das Ausbalancieren des Portfoliorisikoprofils mit festverzinslichen Wertpapieren nun interessante Renditen mit sich bringen kann. Allerdings muss dafür ein etwas höheres Durationsrisiko4 in Kauf genommen werden. In den vergangenen Quartalen haben Festgelder Zinseinkünfte oberhalb der langfristigen Inflationserwartung produziert. Diese Phase dürfte in den kommenden Monaten zu Ende gehen. Während ein Wiederaufflammen der Inflation und demzufolge eine länger restriktive Notenbankpolitik ein Risikoszenario darstellt, das steigende Anleiherenditen bedeuten könnte (von dem derzeit allerdings nicht auszugehen ist), rücken länger laufende Zinspapiere daher vermehrt in den Fokus, denn festverzinsliche Wertpapiere können auch eine Absicherung gegen mögliche Konjunkturrisiken bieten.

 

Manuela D’Onofrio, Head of Group Investment Strategy
Philip Giskdakis, Chief Investment Officer Germany, UniCredit Bank GmbH (HypoVereinsbank)
Alessandro Caviglia, Chief Investment Officer Italy, UniCredit SpA
Oliver Prinz, Co-Chief Investment Officer UniCredit Bank Austria AG and Schoellerbank AG

Ein technische Rezession wird in Europa oftmals als mindestens zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem realem BIP-Wachstum definiert.

Die Resilienz der Märkte bzgl. des Krieges im Nahen Osten vertiefen wir im Fokus-Teil dieser Publikation. 

Soft Landing beschreibt eine Phase, in der sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt, die Wirtschaft aber nicht in eine Rezession gerät. Ein Hard Landing hingegen bezeichnet eine plötzliche und starke Verlangsamung der Wirtschaft, die in der Regel zu einer Rezession führt. 

Risiko der Zinsänderung während der Kapitalbindungsdauer