Draghi-Bericht zur Zukunft der EU-Wettbewerbsfähigkeit gibt wichtige Impulse
Es geht um mehr als um gemeinschaftliche Schulden - Investitionen als Schlüssel
Mitte September präsentierte Mario Draghi, ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und italienischer Ministerpräsident, seinen Strategiebericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Nach Ansicht Draghis muss sich die Europäische Union (EU) auf drei Schlüsselthemen konzentrieren, um im Wettbewerb mit den USA und China nicht nachhaltig ins Hintertreffen zu geraten: I) die Verringerung des Innovationsrückstands, II) die Entwicklung eines gemeinsamen Programms, um das Ziel der Dekarbonisierung mit der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu verbinden, und III) die Stärkung der Sicherheit Europas bei gleichzeitiger Verringerung seiner Abhängigkeit von ausländischen Wirtschaftsmächten.
Während er über 170 konkrete politische Vorschläge skizziert, betrachtet Draghi insbesondere die Steigerung der Produktivität der EU als „existenzielle Herausforderung“. Er erörtert ausführlich, was zu tun ist, um sie auf ein weltweit wettbewerbsfähiges Niveau zu hieven – in einer Welt, in der China voraussichtlich weiterhin eine große Anzahl strategischer Sektoren aggressiv subventionieren wird und in der die USA eine aktivere Industriepolitik verfolgen. Draghi fordert massive zusätzliche Investitionen im Umfang von 750 bis 800 Mrd. Euro pro Jahr für Projekte, deren Ziele bereits in der EU vereinbart wurden. Das entspricht 4,4 % bis 4,7 % des europäischen Bruttoinlandsprodukts1 (BIP, 2023) – Werte, wie sie zuletzt in den 1970er-Jahren erreicht wurden. Historisch gesehen tätige die Privatwirtschaft in Europa Draghi zufolge etwa vier Fünftel der produktiven Investitionen, das restliche Fünftel käme von der öffentlichen Hand. Entsprechend solle der überwiegende Teil der zusätzlich geforderten Mittel aus privaten Quellen stammen. Der andere Teil (nimmt man die genannten 20 % als Richtwert wäre dies fast 1 % des BIP pro Jahr) solle durch öffentliche Investitionen speziell zur Finanzierung wichtiger gemeinsamer Projekte gesichert werden, auch durch die Ausgabe gemeinsamer Schuldtitel, wie sie die EU bereits im Rahmen des Corona-Wiederaufbaufonds (NextGenEU)2 auf den Markt gebracht hat.
Im Folgenden beleuchten wir den Bericht ein wenig detaillierter, bevor wir eine Einordnung vornehmen.
Erster Teil des Berichts: Drei zentrale Herausforderungen
Der erste Teil des Berichts3 entwirft eine übergreifende Wettbewerbsstrategie für Europa, die drei zentrale Herausforderungen skizziert.
Forderung 1: Innovationen beschleunigen und neue Wachstumsmotoren identifizieren
Draghi fordert, Europa müsse sein Innovationstempo beschleunigen, um seine Führungsposition im verarbeitenden Gewerbe zu behaupten und neue, bahnbrechende Technologien zu entwickeln. Schnellere Innovationszyklen würden dazu beitragen, das Produktivitätswachstum in der EU anzukurbeln, was zu einem stärkeren Wachstum der Haushaltseinkommen und einer stärkeren Binnennachfrage führe.
Forderung 2: Energiepreise senken und sowohl Dekarbonisierung als auch Übergang zur Kreislaufwirtschaft fortsetzen
Europa müsse sowohl eine Führungsrolle bei neuen sauberen Technologien und Kreislauflösungen übernehmen als auch seine Energieerzeugung auf sichere, kostengünstige und saubere Energiequellen umstellen. Dazu müsse die EU eine kohärente Strategie für alle Aspekte der Dekarbonisierung entwickeln, von der Energie bis zur Industrie.
Forderung 3: In einer geopolitisch instabileren Welt insbesondere in puncto Sicherheit unabhängiger werden
Europa sei mit seinem hohen Grad an Handelsoffenheit angesichts des Trends zu technologischer Unabhängigkeit und vertikaler Integration der Lieferketten bei gleichzeitiger Zunahme handelspolitischer Eingriffe besonderes gefährdetet und müsse auch auf ein sich radikal veränderndes Sicherheitsumfeld an seinen Grenzen reagieren. Erforderlich sei ein Plan, um Abhängigkeiten zu überwinden und Investitionen in die Verteidigung zu erhöhen.
Zweiter Teil des Berichts: Sektorale Strategien und konkrete branchenübergreifende Empfehlungen
Der zweite Teil des Berichts4 beleuchtet sektorale Strategien in zehn kritischen Bereichen (Energie, kritische Rohstoffe, Digitalisierung und fortgeschrittene Technologien, energieintensive Industrien, saubere Technologien, Automobilindustrie, Verteidigung, Raumfahrt, Pharma und Verkehr/Transport) und enthält konkrete Vorschläge, wie es Europa in jedem dieser Bereiche gelingen kann, seine Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Über die sektorspezifischen Strategien hinaus enthält der Bericht innerhalb der folgenden Bereiche zahlreiche konkrete branchenübergreifende Empfehlungen, die jeweils mit einem Zeithorizont versehen sind:
- Innovation beschleunigen: Fokus auf Innovation bei den strategischen Prioritäten, unter anderem durch eine Reform von Regulierungsvorschriften (Solvabilität II), um mehr privates Kapital für Hightech-Investitionen zu mobilisieren, und eine Ausweitung des Mandats der Europäischen Investitionsbank (EIB)5 für Direktinvestitionen in strategischen Sektoren.
- Qualifikationslücke schließen: Schaffung einer „Union der Fähigkeiten“ („Union of Skills“), die sich auf lebenslanges Lernen und Berufsausbildung konzentriert, und eines neuen EU-weiten Visaprogramms, um hochqualifizierte Arbeitskräfte anzuziehen.
- Investitionen sichern: Emission gemeinsamer EU-Schulden zur Finanzierung großer Ko-Investitionsprojekte auf der Grundlage der bereits bestehenden EU-Initiative NextGenEU und Stärkung der Rolle der EIB bei der Unterstützung strategischer, risikoreicher Projekte.
- Wettbewerbspolitik neugestalten: Anpassung der EU-Wettbewerbspolitik an das digitale Zeitalter, mit Fokus auf Förderung von Innovation und langfristiger Wettbewerbsfähigkeit, unter anderem durch eine Reform der Verfahren zur Überprüfung von Fusionen und der Regeln für staatliche Beihilfen sowie eine Rationalisierung der Entscheidungsfristen, um mit der raschen Entwicklung des Sektors Schritt zu halten.
- Governance stärken: Schwerpunkt auf der Beschleunigung der Entscheidungsfindung und der Verringerung der regulatorischen Komplexität, unter anderem durch eine Ausweitung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit – bei der es nicht notwendig ist, dass eine absolute Mehrheit der Mitgliedstaaten dafür stimmt – auf mehr Bereiche, und durch die Ernennung eines Kommissionsvizepräsidenten, der für Vereinfachung zuständig ist, um den Verwaltungsaufwand für Unternehmen zu verringern und EU-Vorschriften zu vereinfachen.
Unsere Einschätzung: Fokussierung auf Frage der Finanzierung greift zu kurz
Bereits im Jahr 2000 hatte sich die EU mit der sogenannten Lissabon-Strategie das Ziel gesetzt, ihre Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu verbessern. Dafür sollten die Gesamtausgaben für F&E innerhalb von zehn Jahren auf 3 % des BIP steigen. Mit Ausgaben von rund 2,2 % (Eurostat-Daten für 2022; zum Vergleich: 3,4 % in den USA) wurde dieses Ziel bisher weit verfehlt. Draghi legt eine umfassende Analyse des enttäuschenden Wachstums der vergangenen Jahre in Europa vor, insbesondere im Vergleich zu den USA. bei der Produktivitätsentwicklung fällt Europa immer weiter hinter die USA zurück: Zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem zweiten Quartal 2024 stieg die Arbeitsproduktivität pro Arbeitsstunde im Euroraum um 0,9 %, während sie in den USA um 6,7 % zunahm, wie EZB-Daten belegen (siehe Grafik 1). Insbesondere seit 2022 hat sich beim Arbeitsproduktivitätswachstum eine deutliche Lücke zwischen den USA und der Eurozone aufgetan. Nur die öffentliche Hand im Euroraum verzeichnete seit Ende 2019 ein höheres Produktivitätswachstum als in den USA; hingegen legte die Arbeitsproduktivität in den USA insbesondere bei marktbezogenen Dienstleistungen zu, nämlich um 12,4 %, während sie im Euroraum im gleichen Zeitraum nur um 3,8 % anstieg (siehe Grafik 1). Draghis These, dass die EU „die durch das Internet ausgelöste digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst“ hat und bei neuen Technologien gegenüber den USA und China an Boden verliert, lässt sich auch daran belegen, dass das stärkere Produktivitätswachstum in den USA vor allem einem Sub-Sektor zuzuschreiben ist: dem Bereich Information und Kommunikation (plus 27,2 % in den USA gegenüber plus 6,5 % im Euroraum). Seine Feststellung, dass nur 4 der 50 größten Technologieunternehmen der Welt (die gemeinhin als Wachstumsmotor gelten) europäische Unternehmen seien, kann in diesem Kontext kaum überraschen.
Die schiere Anzahl der Draghi-Vorschläge lässt erkennen, dass es keine einfachen Antworten auf die komplexen Herausforderungen Europas gibt. Für das Europäische Parlament (EP)6 und die Europäische Kommission7 kommt der Bericht zu Beginn der neuen Legislaturperiode 2024-2029 allerdings zu einem günstigen Zeitpunkt und dürfte den neuen Arbeitsplan der Kommission maßgeblich beeinflussen. Im Europäischen Parlament stimmten viele Abgeordnete Draghis Analyse zu, dass die EU-Wirtschaft dringend einen Richtungswechsel vornehmen muss: Die EU solle sich auf Wettbewerb und Innovation in Schlüsselindustrien konzentrieren und gleichzeitig die öffentlichen und privaten Investitionen in den sozialen, ökologischen und digitalen Wandel8 erhöhen. Einige Abgeordnete forderten mehr Souveränität sowie freiere Märkte und betonten, dass der Kampf gegen den Klimawandel die EU-Wirtschaft belaste. Andere wiesen darauf hin, dass soziale Investitionen und Wachstum zur Förderung sauberer, innovativer Technologien miteinander vereinbar seien.
Obgleich Draghis Diagnose, dass Europa in einer veralteten Industriestruktur feststeckt, nicht neu ist und der Bericht weitgehend bereits bestehende EU-Initiativen aufnimmt, dürfte er ein wichtiges Gegengewicht zu den Befürwortern strikter fiskalischer Regeln in den allgemeinen Haushaltsberatungen der EU und zugunsten fiskalischer Anreize bilden. Die Frage der Finanzierung seiner Vorschläge bleibt dabei umstritten. Historisch „sparsame“ EU-Staaten wie die die Niederlande und Deutschland lehnen eine gemeinsame Verschuldung nach wie vor strikt ab (wobei es auch innerhalb der deutschen Bundesregierung eine Kontroverse9 um Draghis Forderung gibt). Von anderen wichtigen Mitgliedsstaaten wie Spanien und Frankreich werden die Vorschläge jedoch unterstützt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete neben Instrumenten zur Gemeinschaftsfinanzierung auch sogenannte Eigenmittel wie EU-Importzölle und Kunststoffabgaben als bedeutsam. Der aktuelle siebenjährige Finanzrahmen der EU läuft 2027 aus. Auch Draghis Kritik an der Fragmentierung des EU-Binnenmarkts, der 30 Jahre nach seiner Geburt nach wie vor unvollendet ist, und dem Fehlen einer echten Kapitalmarktunion, die bislang verhindert, dass mehr Risikokapital für Unternehmensgründungen fließt, scheint in diesem Zusammenhang gerechtfertigt. Angesichts der Tatsache, dass europäische Haushalte einen relativ großen Anteil in Einlagen und einen (zu) geringen Anteil in risikoreichere Anlagen investieren, insbesondere im Vergleich zu den USA, könnte eine funktionierende Kapitalmarktunion dazu beitragen, Ersparnisse in längerfristige, höher verzinste Anlagemöglichkeiten zu lenken.
Ob und wie die Vorschläge Draghis umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Dafür ist insbesondere der politische Wille erforderlich, Veränderungen auch gegen Widerstände durchzusetzen. Neben öffentlichen Investitionen und gezielten finanziellen Anreizen wird die Mobilisierung privaten Kapitals entscheidend sein, um den grundlegenden Transformationsprozess zu meistern und im globalen Wettbewerb um die Technologien der Zukunft bestehen zu können. Ein höheres Produktivitätswachstum würde Europa zweifellos helfen, diese Herausforderungen zu finanzieren. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Draghi-Bericht darf dabei nicht durch die Fokussierung auf die Frage der Finanzierung zu sehr in den Hintergrund rücken. Eine solche würde der Sache nicht gerecht. Getrennte Schätzungen der Europäischen Kommission, der EZB und des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigen jedenfalls, dass Investitionen in der von Draghi geforderten Größenordnung die gewünschten Produktivitätseffekte hätten. Infolge der Stimulation der Nachfrage würde die Inflation vorübergehend leicht ansteigen, aber dann wieder zurückgehen, wenn sich die Produktivitätsgewinne voll entfalten.
Mit Blick auf unsere Investmentstrategie bzw. Asset Allokation hat der Draghi-Report keine kurzfristigen, unmittelbaren Implikationen. Mittel- bis langfristig haben die Vorschläge – vorausgesetzt sie finden Eingang in konkretes politisches Handeln – nach unserer Einschätzung aber das Potenzial, ähnlich wie der „Inflation Reduction Act“ (IRA)10 in den USA, ein bedeutender Katalysator für die Transformation der EU-Wirtschaft hin zu einer sauberen Kreislaufwirtschaft werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die Klima-, Energie- und Industriepolitik als eine integrierte Herausforderung verstanden wird. Dank verbesserter Wachstums- und Gewinnaussichten der Unternehmen könnte dies auch die Investitionsbereitschaft in risikoreichere Anlagen in der Region Europa insgesamt erhöhen. Aus sektoraler Sicht sehen wir potenziell positive Implikationen für die Wertschöpfungsketten in den im Draghi-Bericht aufgeführten zehn „kritischen Bereichen“, in denen zusätzliche Investitionen perspektivisch auch die Anlagemöglichkeiten erweitern könnten.
1 Zum Vergleich: Im Rahmen des Marshallplans nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beliefen sich die Investitionen in den Empfängerländern auf 1 % bis 2 % des BIP.
2 NextGenEU (Link: https://next-generation-eu.europa.eu/index_de) bietet den EU-Mitgliedstaaten Zuschüsse und Darlehen für bedeutende Investitionen Im Gegenzug für die Umsetzung gezielter Reformen, die durch von den EU-Mitgliedstaaten gemeinsam getragenen Schulden finanziert werden. Das Programm soll im August 2026 auslaufen.
5 Als zentrale Förderbank finanziert die EIB zentrale europäische Vorhaben. Ihr Fokus liegt auf der Förderung von wichtigen Bereichen wie Umweltschutz oder Infrastruktur, die zur wirtschaftlichen Entwicklung, Arbeitsplätzen, regionaler Integration und ökologischer Nachhaltigkeit beitragen.
6 Die wesentlichen Aufgaben des EP, der einzigen direkt gewählten EU-Institution, sind die Mitwirkung an der Gesetzgebung, die Ausübung demokratischer Kontrollrechte und die Genehmigung des EU-Budgets.
7 Als Exekutivorgan stößt die Kommission politische Initiativen der EU an und ist für die Ausführung von Gesetzen und Programmen zuständig. Sie verwaltet zudem den EU-Haushalt und handelt internationale Abkommen aus.
8 Der im Juli 2024 von der Kommission vorgelegte „Zweite Bericht über den Stand der digitalen Dekade“, der einen umfassenden Überblick über die Fortschritte bietet, die bei der Verwirklichung der Digitalziele und -vorgaben für 2030 erzielt wurden, macht deutlich „dass die gemeinsamen Anstrengungen der Mitgliedstaaten im derzeitigen Szenario hinter den Zielvorgaben der EU zurückbleiben werden.“
9 Finanzminister Christian Lindner (FDP) setzt sich bekanntlich für eine strenge Finanzpolitik ein und hat wiederholt auf tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben gedrängt. Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bezeichnete Draghis Bericht hingegen als „eine Handlungsaufforderung an die neue Europäische Kommission und die EU insgesamt“.
10 Mit dem IRA haben die USA unter Präsident Joe Biden im August 2022 ein mehrere Hundert Milliarden schweres Investitionsprogramm in Kraft gesetzt, das neben Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und einer Neuausrichtung der US-amerikanischen Wirtschaft auf erneuerbare Energien auch umfassende steuerliche Neuregelungen vorsieht.