Konjunkturaufschwung in Deutschland legt Verschnaufpause ein
Zuversicht für allmähliche Erholung bleibt
Während angesichts der jüngsten Arbeitsmarktdaten in den USA über eine möglicherweise bevorstehende Rezession jenseits des Atlantiks diskutiert wird (von der wir allerdings nicht ausgehen), tut sich die deutsche Wirtschaft nach dem Hoffnungsschimmer im ersten Quartal (plus 0,2 % gegenüber dem Vorquartal) weiter schwer, die Stagnation zu überwinden. Mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,1 % (zum Vorquartal) schrumpfte sie im zweiten Quartal1 etwas überraschend wieder und war damit Schlusslicht unter den größten Staaten des Euroraums. Insbesondere die Investitionen in Ausrüstungen wie Maschinen und in Bauten gingen zurück.
Nicht nur die jüngsten Prognosen führender deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute – darunter ifo Institut, DIW Berlin, RWI Essen, IfW Kiel und IW Halle –, die (wenn auch nur leicht) nach oben revidiert wurden, lassen aber erkennen, dass sich die Konjunkturaussichten für die Bundesrepublik im Jahresverlauf aufhellen sollten. Die deutschen Prognosehäuser zeigen sich damit etwas optimistischer als der Konsens der Volkswirte (Bloomberg), der (gegenüber dem Vorjahr) ein BIP-Wachstum von 0,2 % in diesem und bis zu 1,2 % im kommenden Jahr erwartet. Trotz zuletzt eher durchwachsener Signale einer Reihe von Frühindikatoren, die darauf hindeuten, dass der Aufschwung in Deutschland Sommerpause macht, bleiben wir zuversichtlich, dass die deutsche Konjunktur im Jahresverlauf an Schwung gewinnt.
Arbeitsmarkt schwächelt, Zahl der Firmeninsolvenzen in Deutschland so hoch wie zuletzt 2016
Auf dem deutschen Arbeitsmarkt2 werden die Folgen der immer noch wenig dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung zunehmend sichtbar: Im Juli 2024 waren laut Bundesagentur für Arbeit (BA) 2,809 Mio. Menschen in Deutschland arbeitslos – 82.000 mehr als im Juni und 192.000 mehr als im Juli des vergangenen Jahres. Die Arbeitslosenquote stieg im Juli bundesweit auf 6,0 % und lag damit 0,2 Prozentpunkte (Pp) höher als noch im Juni bzw. 0,3 Pp über dem Wert von Juli 2023 (siehe Grafik 1). Gleichzeitig ist auch die Nachfrage nach Arbeitskräften gegenüber dem Jahr zuvor zurückgegangen: Die schwache Wirtschaftsentwicklung ist laut Bundesarbeitsministerium ursächlich dafür, dass im Juli mit 703.000 offenen Stellen 69.000 weniger als vor einem Jahr gemeldet waren (siehe Grafik 1).
Unterdessen trieb die schwächelnde Konjunktur die Anzahl der Firmeninsolvenzen in Deutschland auf das höchste Niveau seit annähernd einem Jahrzehnt. Die Zahl ist im ersten Halbjahr des Jahres 2024 in allen Wirtschaftsbereichen deutlich gestiegen. Nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis)3 legte sie im Juni um 6,3 % (gegenüber dem Vorjahresmonat) zu (siehe Grafik 1). Im Mai hatte der Anstieg allerdings noch deutliche 25,9 % betragen. Nachdem von Juni 2023 bis Mai 2024 durchgängig zweistellige Zuwachsraten im Vorjahresvergleich zu beobachten waren, lag damit im Juni 2024 erstmals in diesem Jahr wieder ein lediglich einstelliger Zuwachs vor.
Begeisterung um Fußball-EM schlägt nicht auf deutsche Wirtschaft durch, wirkt aber als Stimmungsaufheller bei Verbrauchern
Trotz Frühjahrsbelebung tut sich die deutsche Wirtschaft nach wie vor schwer, die Stagnation nachhaltig zu überwinden. Geprägt von einer schwächelnden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, trübte sich die Stimmung unter den Unternehmen in Deutschland im Juli weiter ein. Nach 50,4 im Juni rutschte der auf die gesamte Privatwirtschaft bezogene Einkaufsmanagerindex von S&P Global (Industrie und Dienstleistungssektor) im Juli mit 49,1 Punkten zum ersten Mal seit vier Monaten unter die neutrale Wachstumsschwelle von 50 Punkten und signalisierte damit einen moderaten Rückgang der Wirtschaftsleistung. Ursächlich waren nicht nur der beschleunigte Rückgang der Industrieproduktion auf 43,2 Punkte (der stärkste seit neun Monaten), sondern auch eine Verlangsamung des Geschäftswachstums bei den Dienstleistern auf 52,5 Punkte (knapp unter dem langfristigen Durchschnitt).
Auch der Geschäftsklimaindex des Münchner ifo Instituts deutet an, dass selbst die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland für die deutsche Wirtschaft kein Stimmungsaufheller war. Der ifo-Index gab im Juli zum dritten Mal in Folge auf 87,0 Punkte nach, nach 88,6 Punkten im Juni (siehe Grafik 2). Die Skepsis hat sowohl mit Blick auf die aktuelle Lage als auch die kommenden Monate zugenommen. Dabei hat das Geschäftsklima nach der Erholung in den letzten Monaten selbst im Dienstleistungssektor nach unten gedreht und sich im verarbeitenden Gewerbe sowie im Handel weiter eingetrübt. Nach wie vor bereitet der Auftragsmangel4 den Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes Sorgen und belastet die konjunkturelle Entwicklung. Auch die Reichweite der Auftragsbestände im verarbeitenden Gewerbe ist von ihrem Höchststand von 4,6 Monaten im ersten Quartal 2023 deutlich auf unter vier Monate gesunken, hat sich zuletzt aber stabilisiert. Unter dem Strich signalisiert der ifo ein eher schwächelndes BIP-Wachstum, allerdings hat der Index das reale BIP-Wachstum in den letzten zwölf Monaten tendenziell unterschätzt. Zudem stimmen die anhaltende Aufwärtstendenz der Erwartungen im verarbeitenden Gewerbe und Signale für eine Bodenbildung im Bausektor, die sich an der ifo-Erwartungskomponente für den Wohnungsbau und Gewerbeimmobilien ablesen lassen, optimistisch.
Anders als bei den deutschen Unternehmen hat die sich Stimmung der deutschen Konsumenten im Juli deutlich aufgehellt, nicht zuletzt wegen der Euphorie rund um die Fußball-EM. Das von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) und dem Nürnberg Institut für Marktentscheidungen (NIM) ermittelte Barometer für das Konsumklima für August stieg auf minus -18,4 Punkte, von revidiert minus -21,6 Zählern im Vormonat (siehe Grafik 2). Nach den inflationsbedingten Kaufkraftverlusten der letzten Jahre bleiben die Verbraucher aber vorsichtig. Dies verdeutlich nicht nur ihr eher skeptischer Blick auf die Konjunktur, sondern auch die Tatsache, dass die Sparquote nach wie vor über dem Niveau vor der Corona-Pandemie liegt.
Wachstumsstütze Konsum: Inflationsbedingte Kaufkraftverluste der privaten Haushalte werden kleiner
Unterdessen bleibt der Disinflationspfad in Deutschland angesichts des anhaltenden Preisdrucks im Dienstleistungssektor holprig. Die Teuerungsrate legte im Juli marginal zu, auf 2,3 % (gegenüber dem Vorjahresmonat), nachdem sie im Juni noch bei 2,2 % gelegen hatte. Die Kerninflationsrate (ohne die schwankungsanfälligen Preise für Nahrungsmittel und Energie), die im Juni zum ersten Mal seit Februar 2022 wieder unter 3 % gefallen war, blieb mit 2,9 % hingegen stabil. Sie liegt damit zwar noch immer deutlich über dem EZB-Ziel von 2 %, der Trend in Richtung dieser Marke sollte sich im weiteren Jahresverlauf aber fortsetzen.
Löhne und Gehälter stiegen zuletzt erstmals seit Jahren wieder stärker als die Preise, sodass die inflationsbedingten Kaufkraftverluste der privaten Haushalte zunehmend überwunden werden. Angesichts wieder steigender Realeinkommen, die im vergangenen Jahr noch um 0,3 % gefallen waren, sollte der private Konsum im Jahresverlauf beginnen, die Konjunktur zu stützen. Dass die EZB im Juni erstmals wieder die Zinsen senkte und im zweiten Halbjahr zwei weitere Zinssenkungen folgen könnten, dürfte sich ebenfalls stützend auf die Konjunktur auswirken. Auf Unternehmensseite sollten die anhaltend stabile Arbeitsmarktentwicklung und Impulse von der Außenwirtschaft zur allmählichen Erholung der stark exportorientierten deutschen Wirtschaft beitragen. Zumindest den energieintensiven Branchen dürfte zudem die Tatsache Luft verschaffen, dass die Energiepreise wieder deutlich gesunken sind.
Gewinnerwartungen lassen erkennen, dass Deutschland die Schwächephase hinter sich lassen könnte
Blickt man auf die Gewinnentwicklung deutscher Unternehmen, lässt sich beobachten, dass insbesondere die global aufgestellten deutschen Konzerne trotz wenig dynamischer heimischer Konjunktur solide Gewinne verbuchen. Den Konsensschätzungen (Bloomberg) zufolge dürfte das Gewinnwachstum im Durchschnitt 2024 noch eher seitwärts tendieren, bevor der Konsens für das kommende Jahr dann ein zweistelliges Plus erwartet, ähnlich dem in den USA. Damit deuten die Gewinnerwartungen darauf hin, dass auch die breite deutsche Wirtschaft die Schwächephase im Zuge einer Belebung der Weltwirtschaft5 hinter sich lassen könnte. Die anziehenden Unternehmensgewinne sollten auch die Bewertungen deutscher Unternehmen stützen. Nach wie vor sind die relativen Bewertungen deutscher Unternehmen historisch günstig: Der MSCI Germany wird trotz der erfreulichen Performance des ersten Halbjahrs nach dem jüngsten Rückschlag mit einem Abschlag des Kurs-Gewinn-Verhältnisses (KGV) von rund 45 % Prozent gegenüber dem MSCI USA gehandelt (siehe Grafik 3).
Obgleich er Mitte Mai ein neues Rekordhoch erreichte – von dem er nun, fast drei Monate später, allerdings wieder ein Stück entfernt ist –, erscheint der breite deutsche Aktienmarkt aus Bewertungssicht also nicht teuer. Dies bietet insbesondere Anlegern und Investoren, die an eine Erholung der globalen Wirtschaft glauben und bereit sind, mögliche Risiken (etwa im Kontext der US-Wahl) in Kauf zu nehmen, interessante Opportunitäten, auch und insbesondere bei global agierenden deutschen Qualitätswerten. Wichtig dabei bleibt eine gesunde Selektion und Diversifikation über Branchen hinweg.
Weg bleibt holprig, aber moderater Aufschwung in diesem Jahr unser Basisszenario
Vor rund einem Jahr stellte das britische Magazin The Economist die Frage, ob Deutschland wieder der kranke Mann Europas sei. Tatsächlich waren die Jahre 2022 und 2023, und auch das erste Halbjahr dieses Jahres, durch eine weitgehende wirtschaftliche Stagnation geprägt. Die Energiekrise, die anhaltende globale Schwäche des verarbeitenden Gewerbes infolge von Corona-Pandemie bzw. Ukraine-Krieg und, damit verbunden, der lahmende Welthandel haben die exportorientierte deutsche Wirtschaft in besonderem Maße belastet.
Kurz- bis mittelfristig, mit Blick auf das vierte Quartal und insbesondere das kommende Jahr, bleiben wir zuversichtlich, dass ein moderater Aufschwung in Deutschland bevorsteht, auch wenn der Weg holprig bleibt. Wie dargelegt sprechen sowohl wirtschaftliche Überlegungen als auch wichtige empirische Daten für ein solches Szenario. Die deutschen Exporte dürften im Zuge einer allmählichen Belebung des Welthandels6 wieder auf einen moderaten Expansionskurs einschwenken. Die Ausgaben der Verbraucher sollten dank abkühlender Inflation, realer Lohnzuwächse und einer weiterhin robusten Nachfrage nach Arbeitskräften leicht zulegen. Und auch der zuletzt gebeutelte Bausektor lässt Anzeichen einer Bodenbildung erkennen. Bis harte, fundamentale Daten (wie Baugenehmigungen und Baubeginne) diesen Trend bestätigen, könnte es zwar noch dauern, der Stimmungsumschwung hat aber unzweifelhaft eingesetzt.
Die strukturellen Herausforderungen, die den Ausblick für den Standort Deutschland mittelfristig belasten, haben sich unterdessen nicht in Luft aufgelöst, wie eher niedrige Prognosen für das Produktivitäts- und Potenzialwachstum7 reflektieren. Dazu zählen insbesondere der demografische Wandel und das damit zurückgehende Arbeitsangebot (d.h. fehlende Arbeitskräfte), ein Investitionsstau bei Infrastruktur und Bildung, aber auch die nicht zuletzt infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine initiierte Transformation der Energieversorgung8 oder geostrategische Weichenstellungen wie die Gestaltung fruchtbarer Handelsbeziehungen zu China (im Rahmen der EU), die aktuell von einer Spirale protektionistischer Maßnahmen und Gegenmaßnahmen bedroht sind. Hier sind politische Antworten gefragt.
1 Fundamental betrachtet gibt es Hinweise darauf, dass die BIP-Zahl für das erste Quartal möglicherweise „zu gut“ und für das zweite „zu schlecht“ war.
2 Nachlaufende Indikatoren wie der Arbeitsmarkt zeigen in der Regel Veränderungen in der Wirtschaft an, nachdem sie eingetreten sind. Sie verändern sich erst, nachdem sich ein Trend verfestigt hat und werden zu dessen Bestätigung herangezogen.
3 Zu berücksichtigen ist, dass die Anträge erst nach der ersten Entscheidung des Insolvenzgerichts in die Statistik einfließen. Der tatsächliche Zeitpunkt des Insolvenzantrags liegt in vielen Fällen annähernd drei Monate davor.
4 Im Juli berichteten laut ifo 39,4 % der Unternehmen von fehlenden Aufträgen, nach 38,4 % im April.
5 Insbesondere das Wachstumstempo in China ist in diesem Kontext von Bedeutung. Im zweiten Quartal ist die chinesische Wirtschaft offiziellen Angaben zufolge um 4,7 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gewachsen. Im ersten Quartal waren es noch 5,3 %.
6 Nachdem es im vergangenen Jahr einen Rückgang um 1,2 % gab, soll der Welthandel der Welthandelsorganisation (WTO) zufolge im laufenden Jahr um 2,6 % gegenüber dem Vorjahr steigen. Für 2025 wird ein Zuwachs von 3,3 % erwartet.
7 Das Produktivitätswachstum beschreibt eine Steigerung des Outputs pro Inputeinheit, also eine positive Veränderung des Verhältnisses von Produktionsergebnis zu den dafür eingesetzten Produktionsfaktoren, im Zeitverlauf. Als Potenzialwachstum versteht man die langfristige Veränderung des Bruttoinlandsprodukts bei einem normalen Auslastungsgrad der Produktionskapazitäten. Somit stellt das Potenzialwachstum also die Veränderung des Produktionspotenzials dar.
8 Die nach wie vor hohen Energiekosten stellen insbesondere für energieintensive Industrie eine Herausforderung dar.