CIO Kommentar

Global divergierende geldpolitische Positionen und historische Wende in Japan

Das Jahr 2024 hatte mit der erstaunlich starken wirtschaftlichen Entwicklung im ersten Quartal einen durchaus überraschenden Start. Während viele Marktteilnehmer erwartet hatten, dass sich die Wirtschaftsaktivität insbesondere in den USA, nach dem starken vierten Quartal des letzten Jahres, deutlich abkühlen würde, zeigt die US-Wirtschaft trotz anhaltend hoher Zinsen und Inflation kaum Anzeichen von Schwäche. Am deutlichsten sieht man das an den Arbeitsmarktdaten: Im ersten Quartal 2024 hat die US-Wirtschaft fast 830.000 zusätzliche Stellen geschaffen. Das ist mehr als die durchschnittlichen 640.000 neugeschaffenen Stellen im dritten und vierten Quartal des vergangenen Jahres – und auch deutlich mehr als die 600.000 Stellen, die erwartet worden waren.

In den USA war in den letzten Jahren vor allem die starke Nachfrage nach Arbeitskräften und der damit verbundene Anstieg der Lohnkosten ein wichtiger Inflationstreiber. Der monatliche Preisauftrieb in den USA hat sich in den letzten Monaten unerwartet deutlich beschleunigt, während die Inflation im Euroraum ihren Sinkflug zuletzt fortsetzte. Diese Entwicklung hat, zusammen mit den starken Wirtschaftsdaten aus den USA, für spürbar steigende US-Anleiherenditen gesorgt. Denn der von Marktteilnehmern erwartete Zeitpunkt für die mutmaßlich erste Zinssenkung durch die US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) verschiebt sich allmählich immer weiter nach hinten. War der Markt im vergangenen Herbst noch davon ausgegangen, dass bereits im März 2024 die erste Zinssenkung durch die Fed erfolgen könnte, hatte sich diese Erwartung zwischenzeitlich auf Juni verschoben. Nach den jüngsten US-Inflationsdaten wird an den Terminmärkten nun jedoch erst für September mit einer ersten Zinssenkung gerechnet. Die Fed, die eine baldige Rückkehr zum Zwei-Prozent-Inflationsziel anstrebt, dürfte sich in ihrer abwartenden Haltung bestärkt sehen und keinen Druck verspüren, die Zinsen (zu) schnell zu senken. Unterdessen schrieb die japanische Zentralbank ein Stück Wirtschaftsgeschichte: Mit der ersten Zinsanhebung seit 17 Jahren ist sie die letzte der großen Zentralbanken, die sich von der Politik der Negativzinsen verabschiedet (siehe Teil „Im Fokus“).

Dass aktuell erst die Septembersitzung der Fed als der wahrscheinlichste Zeitpunkt für eine erste Zinssenkung gesehen wird, bleibt selbstverständlich nicht ohne Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Die Renditen von länger laufenden US-Staatsanleihen stiegen zuletzt deutlich an. Sie handeln nun auf einem Niveau wie zuletzt im November des vergangenen Jahres. Die hohen US-Renditen führen außerdem dazu, dass die Attraktivität von Anlagen im US-Dollar-Raum zunimmt. Deswegen hat der US-Dollar in den vergangenen Wochen gegenüber fast allen Währungen deutlich zugelegt. Diese Entwicklungen belasten die Schwellenländer, da sich Regierungen und Unternehmen dort häufiger in US-Dollar verschulden und sowohl die hohen US-Zinsen als auch der starke US-Dollar den Schuldendienst verteuern. Nachdem die Aussicht auf eine Zinswende, insbesondere in den USA, in den vergangenen Monaten weltweit mit steigenden Aktienkursen einherging, belasteten die steigenden US-Renditen, in Verbindung mit den gestiegenen geopolitischen Risiken durch die Krise im Nahen Osten, die Aktienmärkte zuletzt wieder.

Für die Einschätzung der Lage ist es aber wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass der Grund für diese Entwicklung in der robusten US-Konjunktur liegt, die grundsätzlich gut für Aktien ist, denn eine starke Wirtschaft bedeutet in der Regel steigende Unternehmensgewinne. Sollte der Renditeanstieg zum Stillstand kommen, dürfte die gute Konjunkturlage also wieder in den Vordergrund treten. In Europa ist die Situation zwar etwas anders – die Europäische Zentralbank (EZB) dürfte vermutlich im Sommer zum ersten Mal die Zinsen senken – aber die starke Nachfrage aus den USA, der Wachstumslokomotive der Welt, dürfte in konjunktureller Hinsicht auch positiv auf Europa ausstrahlen. Erste Anzeichen für eine positive Entwicklung zeigen sich in den jüngsten Daten. So ist beispielsweise die Industrieproduktion in Deutschland in den ersten beiden Monaten des Jahres überraschend stark gewachsen.

Nichtsdestotrotz erscheint es nicht überraschend, dass die Aktienmärkte nach dem starken Jahresauftakt eine Verschnaufpause einlegen und sich offensichtlich eine etwas volatilere Seitwärtsphase einstellt. In den kommenden Monaten wird das Augenmerk von Investoren und Anlegern sowohl auf den Daten liegen, die die geldpolitischen Entscheidungen der großen westlichen Notenbanken beeinflussen werden (d.h. Inflation und ihre Treiber wie etwa Lohnentwicklung und Energiepreise) als auch auf der Konjunktur sowie der Entwicklung der Unternehmensgewinne.

Bezüglich des Performancepotentials europäischer Aktien gilt es einen weiteren wichtigen Faktor zu beachten: Insbesondere die Schwergewichte in den europäischen Aktienindizes haben eher ein multinationales als ein binnenwirtschaftliches Geschäftsprofil. Das heißt: Die im Vergleich zu den USA etwas schwächere wirtschaftliche Entwicklung in Europa muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass das Gewinnpotenzial europäischer Aktien deutlich hinter dem vergleichbarer US-Titel zurückbleibt.

Blickt man auf beispielsweise auf deutsche Aktien, so geht der Konsens der Analysten1 zwar für 2024 noch von einem eher moderaten Wachstum der Unternehmensgewinne von 4 % aus. In den Jahren 2025 und 2026 sollten sich den Konsensschätzungen zufolge aber im Schnitt zweistellige Wachstumsraten einstellen – ein Gewinnwachstum in derselben Größenordnung wie jenes, das für US-Unternehmen im selben Zeitraum erwartet wird. Das ist bemerkenswert, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Erwartungen bezüglich des Wirtschaftswachstums durchaus unterscheiden. Für die USA werden in den kommenden zwei Jahren Wachstumsraten in der Größenordnung von 2 % erwartet, für Deutschland nur etwa die Hälfte. Wenn die Weltwirtschaft im Fahrwasser einer starken US-Konjunktur wächst, sollte dies auch deutsche Unternehmen dank ihres internationalen Geschäftsprofils unterstützen.

Die Konsequenzen für die Anlagestrategie in einem Multi-Asset-Portfolio sind naheliegend: Beide grundlegenden Anlageklassen – Aktien und Anleihen – weisen interessante Renditechancen auf. Eine bedeutende Verschiebung unserer aktuellen Anlageallokation erscheint vor diesem Hintergrund aktuell nicht angeraten. Etwas mehr im Detail betrachtet, weisen US-Dollar-Anleihen laufende hohe Renditen aus und bergen potenzielle Kursgewinne bei stark rückläufigen Renditen (mit denen aktuell allerdings weniger zu rechnen ist). In Europa tragen Anleihen zwar niedrigere laufende Renditen als in den USA, aber potenzielle Kurgewinne im Zuge der möglicherweise rascheren Zinssenkungen seitens der EZB sollten nicht außer Acht gelassen werden. Sollten die Zinsen deutlich länger als erwartet hoch bleiben oder sogar nochmal steigen (wovon wir aktuell in unserem Basisszenario nicht ausgehen), wären steigende Renditen und damit Kursverluste bei Anleihen allerdings nicht auszuschließen.

Globale Aktien bleiben unterdessen – mit einem ausgewogenen Gewicht – strategisch interessant. Eventuelle Rücksetzer im Zuge einer möglichen volatilen Seitwärtsbewegung können zwar nicht ausgeschlossen werden. Risikoaffine Anleger und Investoren könnten solche aber auch als Chance sehen, selektive Zukäufe in Erwägung zu ziehen. Nur ein Abgleiten der Wirtschaft in eine Rezession, deren Wahrscheinlichkeit derzeit jedoch geringer ist, würde mutmaßlich zu einer deutlicheren Korrektur auf den Aktienmärkten führen. Für eine breite Aufwärtsbewegung, insbesondere in zyklischen Segmenten, wünschen wir uns derzeit noch eine Bestätigung des Soft-Landing-­Szenarios2. Sollte sich ein solches Szenario deutlicher abzeichnen, könnten risikoaffine Anleger über ein Umschichten von Anleihen in Aktien mit Kurspotenzial nachdenken.

 

 

Manuela D’Onofrio, Head of Group Investment Strategy
Philip Giskdakis, Chief Investment Officer Germany, UniCredit Bank GmbH (HypoVereinsbank)
Alessandro Caviglia, Chief Investment Officer Italy, UniCredit SpA
Oliver Prinz, Co-Chief Investment Officer of UniCredit Bank Austria AG and Schoellerbank AG

1 Die Konsensus-Schätzung ist der Median in der Verteilung der einzelnen Schätzungen. Der Median ist der Wert, der genau in der Mitte einer Datenreihe liegt, die nach der Größe geordnet ist. Er halbiert die Datenreihe, sodass eine Hälfte der Daten unterhalb und die andere Hälfte oberhalb des Medians in der geordneten Reihe liegt.

2 Unter “Soft Landing” (sanfte Landung) versteht man in der Wirtschaft üblicherweise einen zyklischen Konjunkturabschwung, der nicht in eine Rezession mündet.