Im Fokus

Superwahljahr 2024: Vier Milliarden Menschen werden an die Urnen gerufen

Nicht erst seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verfolgen Marktteilnehmer geopolitische Entwicklungen mit großer Aufmerksamkeit, und ein Blick auf die vergangenen Jahre zeigt, welche Auswirkungen sie auf die globalen Finanzmärkte haben können: Das Brexit-Referendum im Jahr 2016 oder die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten ein Jahr später, aber auch die politische Reaktion auf die Corona-Pandemie sind Beispiele dafür, dass politische Entscheidungen nicht spurlos an den Märkten und Marktteilnehmern vorbeigehen. Mit gemischten Gefühlen blicken Letztere daher auf das Jahr 2024 – das Superwahljahr, in dem die Bürger in mehr als 70 Staaten, die laut Berechnungen des britischen Wirtschaftsmagazins Economist mit über vier Milliarden Menschen mehr als 50 % der Weltbevölkerung und einen großen Teil des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) repräsentieren, aufgerufen sind, bei Präsidentschafts-, Parlaments- oder Kommunalwahlen ihre Stimme abzugeben. Wir geben einen Überblick über die bedeutendsten Wahlen des Jahres 2024 und nehmen auch mit Blick auf die Frage möglicher Implikationen für die Investmentstrategie eine kurze Einordnung vor. Nicht alle werden für die globalen Finanzmärkte von Bedeutung sein, da sie in Ländern mit zu geringem wirtschaftlichem oder geopolitischem Einfluss stattfinden, als dass sie an den Märkten Beachtung finden würden. Der Fokus der globalen Finanzmärkte liegt zweifelsohne auf der US-Präsidentschaftswahl im November. 

TAIWAN (JANUAR): VERHÄLTNIS ZU CHINA ÜBERSTRAHLT ALLES

Zwar mit deutlich weniger Stimmen als zuletzt, jedoch deutlicher als erwartet, gewann zum dritten Mal in Folge die freiheitliche Demokratische Fortschrittspartei (DPP) die Präsidentschaftswahlen in Taiwan. Aufgrund seiner wirtschaftlichen und geopolitischen Bedeutung wurde der Wahlausgang international mit großer Aufmerksamkeit verfolgt: Er spielt mit Blick auf Verhältnis Taiwans zum Nachbarn China, die den Inselstaat als Teil des eigenen Territoriums betrachtet, eine bedeutende Rolle. Die Reaktion der chinesischen Regierung auf den Ausgang der Wahl bezeichneten Experten als eher gemäßigt. Der Kommentar von US-Präsident Joe Biden („Wir unterstützen die Unabhängigkeit Taiwans nicht“) – wiederum macht das erkennbare Bemühen der USA3 deutlich, keine (weiteren) diplomatischen Spannungen mit China zu riskieren.

RUSSLAND (MÄRZ): KANN DIE OPPOSITION EIN ZEICHEN DES WIDERSTANDS SETZEN?

In Russland plant der amtierende Präsident Wladimir Putin, sich vom 15. bis 17. März erneut für sechs Jahre im Amt zu bestätigen zu lassen. Er könnte etwa 80 Prozent der Stimmen erhalten. Auch in den sogenannten „neuen Gebieten“, d. h. in den teilweise besetzten Regionen der Ukraine, die Moskau im vergangenen Jahr annektiert haben will, sollen die Wahlen stattfinden. Letztere schaffen in einer Gesellschaft ohne politischen Wettbewerb eine Art Legitimierung für Putin: Obwohl ihre tatsächliche Stimmenabgabe nachrangig ist, demonstrieren die Russen allein durch ihre Teilnahme an den Wahlen, dass sie die vom Kreml vorgegebenen Mechanismen prinzipiell akzeptieren. Offen bleibt, ob die Opposition trotz aller Widrigkeiten in der Lage sein wird, ein Zeichen des Widerstands zu setzen.

IRAN (MÄRZ): RESIGNIERTE REFORM-KRÄFTE

Auch im Iran, der wieder im Mittelpunkt der Spannungen im Nahen Osten steht, stehen im März Parlamentswahlen an. Im Iran gibt es kein klassisches Parteiensystem. Es konkurrieren vornehmlich diverse Fraktionen miteinander. Aktuell dominieren konservative Hardliner das Abgeordnetenhaus. Politiker der Reformbewegung gelten seit Jahren als massiv geschwächt. Zahlreiche Bewerber für einen Abgeordnetensitz, darunter auch aktuelle Abgeordnete, hat das Regime in Teheran wegen „mangelhafter ideologischer Qualifikation“ von der Wahl ausgeschlossen. 

INDIEN (APRIL/MAI): REGIERUNGSCHEF MODI KLARER FAVORIT

In Indien geht Premierminister Narendra Modi bei der Wahl in der größten Demokratie der Welt im April und Mai als Favorit ins Rennen. Wegen ihrer Größe – knapp eine Milliarde Wahlberechtigte dürfen ihre Stimme abgeben – dauert die Wahl mehrere Monate. Der 73-jährige Modi erfreut sich wegen des starken Wirtschaftswachstums von knapp sieben Prozent guter Umfragewerte. In den vergangenen Jahren versuchte er zudem, Indien auch international zu profilieren. Das Land wird aufgrund seines enormen Potenzials vom Westen umworben. Umgekehrt sind für Indien gute Beziehungen zum Westen auch vor dem Hintergrund seiner Rivalität mit China bedeutsam.

EUROPÄISCHES PARLAMENT (JUNI): TEST FÜR DIE RECHTSPOPULISTEN

Die Wahlen der 720 Abgeordneten des Europäischen Parlaments4 (EP), dem einzig direkt gewählten EU-Organ, das über die neue Führung der EU-Kommission bestimmen wird, finden Anfang Juni 2024 in allen 27 EU-Mitgliedstaaten statt. In den Fokus gerückt ist das Abschneiden der populistischen und/oder antieuropäischen Parteien, die eine Mischung aus Kriegs-, Abstiegs- und Fremdenängsten schüren. In Ungarn stellen die Rechtspopulisten bereits den Regierungschef, in der Slowakei und in Finnland sind sie Juniorpartner in der Regierung mit Christdemokraten. In Schweden unterstützen sie die Regierungspartei. Und in Deutschland, Frankreich und Österreich erfreuen sie sich guter Umfragewerte. Damit wird bei den Wahlen auch über den weiteren Weg und die Zukunft des europäischen Projekts entschieden.

MEXIKO (JUNI): ERSTE FRAU IM PRÄSIDENTENAMT?

Aus den Präsidentschaftswahlen in Mexiko könnte im Juni zum ersten Mal eine Frau als Präsidentin hervorgehen. Zwei Frauen gelten als Favoritinnen für die Nachfolge von Amtsinhaber Andrés Manuel López Obrador: die ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, von der linken Regierungspartei Morena und die Senatorin Xóchitl Gálvez, Kandidatin des Oppositionsbündnisses. Die Wahl einer Präsidentin wäre ein starkes Signal in einem Land, das von „Machismo“ geprägt ist und in dem durchschnittlich elf Frauenmorde pro Tag verübt werden.

DEUTSCHLAND: LANDTAGSWAHLEN IN SACHSEN, THÜRINGEN UND BRANDENBURG (SEPTEMBER): SIGNAL GEGEN RECHTS?

In den ostdeutschen Bundesländern Sachsen und Thüringen wird am 1. September bzw. in Brandenburg am 22. September gewählt. Umfragen deuten darauf hin, dass die Alternative für Deutschland (AfD) in allen drei Ländern stärkste Kraft werden könnte. Möglich scheint auch, dass Parteien wie Grüne, FDP und SPD an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern und gleichzeitig CDU und Linke zusammen weniger Sitze erhalten als die AfD. Ein AfD-Ministerpräsident wäre dann nicht zu verhindern. Denkbar scheint aber auch, dass sich die demokratischen Parteien zusammenschließen, um gemeinsam eine Minderheitsregierung ohne absolute Mehrheit zu bilden. In keinem der drei Ländern ist eine demokratische Partei zu einer Koalition mit der AfD bereit.

USA (NOVEMBER): KOMMT TRUMP ZURÜCK?

In den USA deutet vieles darauf hin, dass es am 5. November zu einer Neuauflage des Duells von 2020 zwischen Amtsinhaber Joe Biden und Ex-Präsident Donald Trump kommen wird, auch wenn offiziell erst im Sommer feststehen wird, wen Republikaner und Demokraten ins Rennen um die Präsidentschaft schicken. Trump, der wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt, aber im Senat freigesprochen wurde, hat die ersten Vorwahlen5 der Republikaner in den Bundesstaaten Iowa und New Hampshire klar für sich entschieden. Einer im Dezember letzten Jahres veröffentlichten Umfrage der “New York Times” und des renommierten Siena College6 zufolge liegt er in fünf von sechs traditionell wahlentscheidenden US-Staaten vor Biden, der noch ein dreiviertel Jahr lang Zeit hat, den Trend zu drehen. Die robuste wirtschaftliche Entwicklung der USA könnte dabei hilfreich sein. Zudem könnten Trumps Chancen auch durch seine zahlreichen Prozesse noch Schaden nehmen. In seiner zweiten Amtszeit könnte er mehr denn je auf Hardliner setzen und versuchen, die älteste Demokratie der Welt in einen autokratischen Staat zu verwandeln.

GROSSBRITANNIEN (TBD.): ERDRUTSCHSIEG FÜR LABOUR?

Mutmaßlich im Mai oder Oktober bzw. November7 wählen auch die Briten ein neues Unterhaus. Nachdem das Ansehen der konservativen Regierungspartei von Premierminister Rishi Sunak unter dem langjährigen Brexit-Chaos unter Theresa May, den Lockdown-Partys unter Boris Johnson und der nur knapp vermiedenen Finanzkrise unter Kurzzeit-Regierungschefin Liz Truss enorm gelitten hat, sehen seit etwa zwei Jahren alle Umfragen die Labour-Party von Keir Starmer um bis zu 20 Prozent vor den Konservativen, die Großbritannien seit dem Jahr 2010 regieren. Im britischen Mehrheitswahlrecht würde dieser Abstand einen Erdrutschsieg für die Opposition bedeuten.

FAZIT

2024 wird nicht nur richtungsweisend für die künftige Entwicklung der zahlreichen Konflikte sein, die derzeit das Weltgeschehen bestimmen. Der Ausgang der vielen Wahlen wird auch wichtige Erkenntnisse über Zustand der Demokratie weltweit liefern. Mit Blick auf die globalen Finanzmärkte ist festzuhalten, dass politische Wahlen und ihre Ergebnisse häufig für kurzfristige Irritationen und Volatilität sorgen können, während wissenschaftliche Untersuchungen in der Regel zu dem Schluss kommen, dass es keine statistische Evidenz für einen signifikanten, langfristigen Einfluss von Wahlergebnissen beispielsweise auf das Ertragspotenzial des breiten Aktienmarkts gibt. 

Bedeutende Megatrends – etwa die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Klimaneutralität, der demografische Wandel in vielen westlichen Industrienationen und die fortschreitende Digitalisierung, die durch den KI-Hype noch einmal an Fahrt aufgenommen hat – werden durch die Wahlen und deren Ausgang kaum aufgehalten. Gleichwohl wird es immer auch Sektoren geben, deren Erfolg insbesondere aufgrund ihrer Abgängigkeit von Regulierung und Subventionen eng mit politischen Entscheidungen verbunden ist. Dies gilt insbesondere für stark subventionierte Branchen, etwa die erneuerbaren Energien. Während beispielsweise die Biden-Regierung für die USA eine Ära als Klimavorreiter eingeläutet hat, würde ein Präsident Trump die Klimasubventionen zugunsten einer höheren Ölförderung wohl kürzen. Dies würde jedoch nichts daran ändern, dass sich Unternehmen auf ein klimaneutrales Wirtschaften vorbereiten müssen – oder andernfalls riskieren, langfristig von Wettbewerbern, welche die Transformation als Chance für Innovationen sehen, verdrängt zu werden.

Vor diesem Hintergrund bleibt die Diversifikation in unserer Anlagestrategie einer der einfachsten – aber auch fundiertesten – Anlagegrundsätze. Gleichzeitig erachten wir die Wahrscheinlichkeit als hoch, dass qualitativ hochwertige Unternehmen mit funktionierendem Geschäftsmodell gut positioniert sind, auch im Jahr 2024 eine Outperformance zu erzielen. Chancen könnten sich insbesondere dann ergeben, wenn sich bestehende Unsicherheiten in Verbindung mit den Wahlen auflösen. Dies könnte vor allem gegen Ende des Jahres, nach den US-Wahlen, relevant werden.

Nach der offiziellen Taiwan-Doktrin aus den 1970er Jahren erkennen die USA die Volksrepublik China als die einzige legitime Regierung in China an. Sie respektieren daher die chinesische Position, dass Taiwan Teil Chinas ist (“Ein China”), teilen sie aber nicht.

Die Zahl der Abgeordneten, die ein Mitgliedsland schicken darf, richtet sich grob nach dessen Einwohnerzahl: Jedes Land hat mindestens sechs, höchstens aber 96 Abgeordnete. Die Kompetenzen des EP haben sich in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich erweitert. Die Abgeordneten sind zum Beispiel zentral an der EU-Gesetzgebung beteiligt. 

Die Vorwahlen sind die Grundlage dafür, wer auf dem Parteitag der Republikaner im Sommer zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wird.

Die Swing-States Nevada, Georgia, Arizona, Michigan und Pennsylvania würden nach aktuellem Stand an Trump gehen, Biden liegt dort mit bis zu elf Prozentpunkten hinten. Nur in Wisconsin hätte Biden einen kleinen Vorsprung von zwei Prozentpunkten. Link: https://www.nytimes.com/news-event/times-siena-poll-coverage

Spätestens im Januar 2025 müssen gemäß den Regeln landesweite Parlamentswahlen abgehalten werden. Sunak, der als Premierminister den Wahltermin festlegt, hat bereits angedeutet, dass er damit nicht bis zum letzten Augenblick warten möchte.