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Indien: Das bevölkerungsstärkste Land der Welt rückt (wieder) ins Blickfeld

Nachdem Anfang des Jahres zunächst Hoffnung aufkeimte, dass die Abkehr der chinesischen Staatsführung von „Null-Covid“ zu einer raschen wirtschaftlichen Erholung des Landes führen könnte, wurden Anleger und Investoren in den letzten Monaten enttäuscht. Die schwache globale Nachfrage macht der stark vom Export abhängigen chinesischen Wirtschaft zu schaffen, gleichzeitig schwächeln der Binnenkonsum und der heimische Immobilienmarkt. Das chinesische Politbüro steuert – mit bislang überschaubarem Erfolg – zunehmend mit geld- und fiskalpolitischen Stimulus-Maßnahmen gegen, um das von ihr anvisierte Wachstumsziel von etwa fünf Prozent in diesem Jahr nicht erneut zu verfehlen. Im Schatten Chinas bzw. der geopolitischen Spannungen zwischen China und den USA lange Zeit verkannt, gewinnt Indien, Ausrichter des jüngsten G20-Gipfels3, dank seiner imposanten jährlichen Wachstumsraten vor allem wirtschaftlich zunehmend an Bedeutung. Das Potenzial des Landes sollten auch Anleger und Investoren in den Blick nehmen.

Indiens Aufstieg zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt

Mit gut 1,4 Mrd. Einwohnern hat Indien laut Bevölkerungsstatistik der Vereinten Nationen den Nachbarn China, der infolge der langjährigen Ein-Kind-Politik mit Vergreisung und Schrumpfung kämpft, unlängst als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst (siehe Grafik 1). Seit Mitte der 1990er Jahre wurden in Indien rund 375 Mio. Menschen geboren. Diese Zahl übertrifft die entsprechende Gruppe in China um beinahe 50 %. Die sogenannte „demografische Dividende“4 eröffnet dem Land ein riesiges Potenzial. Zwar reichen demografische Trends allein nicht aus, um die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung vorherzubestimmen. Dennoch dürfte die dynamische Verschiebung der Bevölkerungsdynamik zwischen China und Indien nicht ohne Einfluss auf die globale Wirtschaft bleiben, denn eine wachsende Bevölkerung kann das Wirtschaftswachstum zweifelsohne begünstigen. Parallel zum Bevölkerungswachstum verschiebt sich in der Regel auch das Verhältnis zwischen Land- und Stadtbevölkerung. In Indien entwickelt sich die Urbanisierungsrate5 aber vergleichsweise verhalten: Ende 2022 wies sie mit etwas mehr als einem Drittel eine beträchtliche Diskrepanz zu China auf, wo zu diesem Stichtag bereits rund zwei Drittel der Einwohner in urbanen Gebieten anzutreffen waren.

Verglichen mit der wirtschaftlichen Macht Chinas, dem dominierenden Wachstumsmotor der Welt in den letzten Jahren, bleibt Indiens Volkswirtschaft noch vergleichsweise klein – das chinesische Bruttoinlandsprodukt übertrifft es um mehr als das Fünffache. Angesichts der jugendlichen und expansiven Bevölkerung Indiens dürfte das Land in den kommenden Jahrzehnten laut Internationalem Währungsfonds (IWF) aber ein höheres Wirtschaftswachstum verzeichnen als China. 2022 erreichte das indische Wirtschaftswachstum fast 7 %, wohingegen dieses in China nur bei rund 3 % lag. Und die Prognosen des IWF deuten an, dass Indiens Wachstumskurve in den kommenden Jahren stabil bleibt (siehe Grafik 1). Auch die Weltbank geht davon aus, dass Indien in den nächsten Jahren die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt bleiben wird. Bis 2050 könnte das Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft global aufsteigen. Bereits heute ist Indien als weltweit größter Hersteller von Generika, d. h. Medikamenten mit abgelaufenem Patentschutz, ein bedeutender Akteur in der globalen Pharmaindustrie und nimmt gleichzeitig eine Spitzenposition im Bereich der Informationstechnologie ein. Zahlreiche andere Wirtschaftszweige, etwa der Einzelhandel oder die Automobilbranche, stecken aber in weiten Teilen noch in den Kinderschuhen.

Indien hat das Interesse von Anlegern und Investoren (neu) geweckt

Im Gegensatz zu China ist Indien keine Autokratie, sondern wird als größte Demokratie der Welt angesehen. Durch eine Reihe von Reformen hat Premierminister Narendra Modi in den vergangenen Jahren den Grundstein für eine robuste wirtschaftliche Entwicklung gelegt. Mit der Digitalisierung und Modernisierung der Verwaltung, der Entbürokratisierung des Staatsapparats und einer Reihe von Investitionsanreizen wurden wichtige Schritte unternommen, um die Wachstumsbedingungen zu stärken. Das Land hofft zudem, davon profitieren zu können, dass weltweit immer mehr Unternehmen an der Diversifizierung ihrer Lieferketten arbeiten. Die Widerstandsfähigkeit des Landes gegenüber der globalen wirtschaftlichen Abkühlung, in Verbindung mit der „China-plus-eins“-Strategie6 vieler internationaler Unternehmen, sollte dem indischen Markt kurz- und mittelfristig weiter zugutekommen. Während China angesichts konjunktureller Probleme die Ausgaben für seine sogenannte Seidenstraßen-Initiative reduzieren muss, wurde am Rande des jüngsten G20-Gipfels zudem bekannt, dass die USA, Europa, Indien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate einen neuen Handelskorridor nach Indien planen. Die weitreichende Infrastrukturinitiative soll den Handel zwischen Europa und Indien um rund 40% beschleunigen.

Nicht zuletzt durch seine vielversprechenden Wachstumsaussichten hat Indien das Interesse von Anlegern und Investoren (neu) geweckt. Eine Beimischung indischer Aktien – etwa über ETFs – können insbesondere langfristig orientierte Anleger, die in Asien bislang eher unterinvestiert sind, durchaus in Erwägung ziehen. Indien profitiert von der aktuellen Stimmung, die Investoren vermehrt nach Alternativen zu China suchen lässt. Allerdings ist Indiens Aktienmarkt, gemessen am MSCI India7, mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von über 25 nach seiner Erholung vom Jahrestief Ende März derzeit eher teuer (siehe Grafik 2). Letzteres dürfte – neben dem Expansionspotenzial des Landes – auch damit zusammenhängen, dass der Fokus indischer Unternehmen auf den lokalen Markt sie scheinbar weniger anfällig für adverse globale Einflüsse macht. In diesem Jahr profitierten die Kurse indischer Aktientitel auch von enormen Zuflüssen aus dem Ausland.

Wie andere Schwellenländer hat allerdings auch Indien mit den Auswirkungen des globalen Klimawandels zu kämpfen, denen gegenüber sich die immer noch überwiegend ländliche geprägte und unterentwickelte Infrastruktur bzw. Wirtschaft Indiens wenig widerstandsfähig zeigt. Rund ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen in Indien8 dürfen beim Blick auf Investitionsmöglichkeiten auf dem Subkontinent zudem politische Risiken nicht außer Acht gelassen werden: Ein Machtverlust der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi, die derzeit die absolute Mehrheit innehat, könnte potenziell Unsicherheit und Volatilität am indischen Finanzmarkt mit sich bringen. Eine Wiederwahl Modis erscheint aktuell aber das wahrscheinlichere Szenario. Kontinuität in der politischen Führung des Landes würde zur Stabilität Indiens beitragen und wäre auch dem Investmentumfeld zuträglich.

Das 18. Gipfeltreffen der Regierungschefs der G20 fand am 9./10. September in Neu-Delhi statt. Die G20 ist ein seit 1999 bestehender informeller Zusammenschluss aus 19 Staaten, der EU und der Afrikanischen Union, welche die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer repräsentiert.

Die demographische Dividende beschreibt den möglichen wirtschaftlichen Nutzen, der sich durch die entwicklungsbedingte Veränderung der Altersstruktur eines Landes erzielen lässt.

Die Urbanisierungsrate bezeichnet den Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung. Ein höherer Urbanisierungsgrad impliziert häufig einen fortschreitenden Entwicklungsstand, und nicht selten ist die Ausdehnung von Städten das Ergebnis wirtschaftlicher Prosperität. Insofern steigern Großstädte auch die Attraktivität eines Landes für Investoren.

Die “China-plus-eins”-Strategie bezieht sich auf Geschäfts- und Produktionsstrategien von Unternehmen, die in Erwägung ziehen, ihre Abhängigkeit von chinesischen Lieferketten und Märkten zu verringern, indem sie zusätzlich zu China noch in mindestens einem anderen Land investieren oder produzieren. Diese Strategie hat an Bedeutung gewonnen, da Unternehmen erkennen, dass die Diversifizierung ihrer Lieferketten und Märkte Risiken mindern und ihre Flexibilität und Resilienz erhöhen kann.

Der MSCI India Index umfasst 115 Unternehmen, die etwa 85 % des indischen Aktienuniversums abdecken. Er macht knapp 15 % des 24 Länder umfassenden MSCI Emerging Markets aus (verglichen mit rund 30 % des MSCI China).

Die Parlamentswahlen stehen vom Mai bis Juni 2024 an.