CIO Kommentar

Am Gipfel: Lockerung lässt auf sich warten

Auch nach den September-Sitzungen von Europäischer Zentralbank (EZB) und Federal Reserve (Fed) wird die Geldpolitik der großen Notenbanken weiter im Fokus stehen. Dabei waren sowohl die Entscheidungen beider Zentralbanken als auch deren Rezeption auf den Märkten unterschiedlich. Die Zinserhöhung der EZB wurde im Markt als „dovish hike“1 wahrgenommen, während die Entscheidung der Fed, die Zinsen unverändert zu lassen, als „hawkish pause“1 interpretiert wurde.

Wir glauben, dass die großen Notenbanken den größten Teil der Zinserhöhungen in diesem Zyklus geliefert haben. Ob noch vereinzelt und in geringem Umfang Zinserhöhungen dazu kommen, dürfte ökonomisch betrachtet keine große Rolle mehr spielen. Und nicht nur die US-Notenbank hat die Zinsen im September unverändert gelassen. Auch die Zentralbanken in Großbritannien, der Schweiz und Japan haben im September nicht weiter an der Zinsschraube gedreht. Denn die Anzeichen einer sich abkühlenden Weltwirtschaft mit nachlassendem Inflationsdruck werden immer evidenter, wie wichtige Stimmungsindikatoren der Wirtschaft deutlich machen – zuletzt die europäischen Einkaufmanagerindizes, aber auch der deutsche ifo-Index. Auch die berichteten Inflationszahlen haben sich deutlich abgekühlt, bleiben aber noch deutlich vom 2-Prozent-Inflationsziel der Notenbanken entfernt.

Der Kampf der Zentralbanker gegen die Inflation ist also noch nicht gewonnen, der Fokus der Geldpolitik verschiebt sich jedoch. Nach dem (wahrscheinlichen) Erreichen des Zinsgipfels steht nun die Frage im Raum, wie lange die Zinsen auf dem aktuell hohen Niveau verbleiben werden. Zu Beginn des Jahres preisten die Zinsmärkte ein, dass etwa die Fed bereits zwei bis drei Monate nach Erreichen des Zinsgipfels die ersten Zinssenkungen vornehmen würde – eine Hoffnung, die vermutlich zu optimistisch war. Die implizite (also aus Marktpreisen abgeleitete) Erwartung hat sich mittlerweile eher auf eine Dauer von zwei bis drei Quartalen zwischen dem Erreichen des Zinshöhepunktes und der ersten Zinssenkung ausgedehnt. Vor diesem Hintergrund ist auch die „hawkish pause“ zu verstehen. Die Zentralbanker um Fed-Präsident Jerome Powell wollen verhindern, dass sich die Marktteilnehmer von der Hoffnung auf zu schnelle Zinssenkungen verleiten lassen. Denn eine solche Entwicklung würde implizieren, dass die langfristigen Renditen am US-Anleihemarkt stärker sinken und damit einen entscheidenden Teil der geldpolitischen Straffung konterkarieren würden. Dies könnte zu einem länger anhaltenden Inflationsdruck führen. Sollten die Inflationszahlen jedoch tatsächlich schneller sinken als erwartet, ist auch nicht auszuschließen, dass die Fed-Mitglieder ihren Zinsausblick deutlich schneller senken als bislang skizziert. Die „hawkishen“ Einlassungen zur jüngsten Fed-Entscheidung könnten insofern eher als Warnung denn als Versprechen aufgefasst werden.

In der Tat könnte der zuletzt gestiegene Ölpreis Anlass zu einer gewissen Vorsicht geben. Allerdings sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass er nicht in erster Linie wegen der starken Nachfrage gestiegen ist, sondern vielmehr infolge der Angebotsverknappung durch die Staaten der OPEC+ (OPEC- und Nicht-OPEC-Staaten, wie z. B. Russland). Deswegen wirkt der höhere Ölpreis zwar einerseits kurzfristig inflationstreibend, andererseits trifft der hohe Ölpreis auf eine bereits schwächelnde Wirtschaft – zumindest in Europa und China. Mittelfristig dürfte er sogar einen weiteren Faktor hin zu einer Abkühlung der Wirtschaftsaktivität darstellen – und letztendlich inflationsdämpfend wirken.

Warum aber rechnen die Märkte angesichts der immer noch zu hohen Inflation überhaupt mit einigermaßen raschen Zinssenkungen? Der Grund ist, dass das aktuelle Niveau der Zentralbankzinsen weit im sogenannten restriktiven Bereich liegt. Die Zentralbanken setzen das Zinsniveau üblicherweise relativ zu einem sogenannten neutralen Zinssatz, also einem Zinssatz der, im Gleichgewichtszustand, die Inflation weder anheizt noch bremst. Ein Zinssatz deutlich unter der neutralen Rate steigert somit die Inflation, während ein deutlich darüberliegender Satz diese abbremst. Die Schwierigkeit an diesem Konzept ist, dass die neutrale Rate nicht direkt messbar ist, sondern nur grob geschätzt werden kann. Die Zentralbanken sollten aber eine gute Vorstellung davon haben, in welcher Höhe der neutrale Zins für ihre jeweilige Volkswirtschaft liegt. Die diesbezügliche Einschätzung der Fed wird sogar veröffentlicht. Sie liegt derzeit im Median des entscheidenden Gremiums bei 2,5 %. Mit einem Zinssatz von deutlich über 5 % ist die Fed also weit im restriktiven (d. h. wachstums- und inflationsbremsenden) Bereich. Und auch wenn die Fed-eigene Schätzung der neutralen Rate von 2,5 % zu niedrig sein sollte, erscheint der aktuelle „Sicherheitsabstand“ hoch genug, anzunehmen, dass die Geldpolitik in den USA die Inflation abkühlt.

Überraschend angesichts der stark restriktiven Geldpolitik ist die anhaltende wirtschaftliche Stärke der USA. Die Fed hat zuletzt ihre Wachstumsprognosen nach oben revidiert, während die EZB ihre für die Eurozone nach unten geschraubt hat. Nüchtern betrachtet wird die derzeitige Stärke der US-Wirtschaft – neben dem robusten privaten Konsum – auch durch die fiskalischen Maßnahmen der Biden-Administration befeuert. Die aktuelle wirtschaftliche Schwäche der Eurozone ist vor dem Hintergrund massiv gestiegenen Zinsen auch damit zu erklären, dass es kein mit Bidenomics2 vergleichbares Ausgabenprogramm gibt. Zwar ist die konjunkturelle Schwäche Deutschlands nicht von der Hand zu weisen, die europäische Wirtschaft insgesamt erscheint aber erstaunlich robust. Sollte eine abkühlende Inflation der EZB im kommenden Jahr den Spielraum zu Zinssenkungen geben (was sehr wahrscheinlich ist), dürfte sich auch hierzulande die Wirtschaftsaktivität erholen. Die Märkte rechnen für 2024 im Euroraum mit ähnlichen BIP-Wachstumsraten wie in den USA. Das Wachstum der Unternehmensgewinne dürfte zwar hinter dem der US-Firmen zurückbleiben, sollte aber im nächsten und übernächsten Jahr deutlich positiv sein. Ein höheres erwartetes Gewinnwachstum in den USA als im Euroraum ist aus unserer Sicht aber bereits in den Bewertungen der jeweiligen Märkte reflektiert. Denn die US-Aktienindizes werden im Schnitt nach wie vor deutlich höher im Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) bewertet als ihre europäischen Pendants, die vergleichsweise günstig bewertet sind und damit selektiv interessante Einstiegmöglichkeiten offerieren.

Aus unserer Sicht ergeben sich daraus attraktive Einstiegsmöglichkeiten in Multi-Asset-Portfolios, also in Portfolien, die Aktien und Anleihen mit einem ausgewogenen Risikoprofil kombinieren. Die Anleiherenditen sind stark gestiegen. Diese Entwicklung ermöglicht Anlegern einerseits interessante Kuponzahlungen und bietet ihnen andererseits das Potenzial möglicher Kurssteigerungen bei Anleihen, wenn die Zentralbanken tatsächlich beginnen, die Zinsen zu senken. Die gestiegenen Renditen eröffnen Anlegern im Übrigen die Aussicht, potenzielle Kursverluste bei Aktien durch mögliche Kursgewinne bei Anleihen (zumindest teilweise) wieder ausgleichen zu können.

 

 

Manuela D’Onofrio, Head of Group Investment Strategy
Philip Giskdakis, Chief Investment Officer Germany, UniCredit Bank GmbH (HypoVereinsbank)
Alessandro Caviglia, Chief Investment Officer Italy, UniCredit SpA
Oliver Prinz, Co-Chief Investment Officer of UniCredit Bank Austria AG and Schoellerbank AG

Eine geldpolitische Haltung gilt als hawkish (falkenhaft), wenn sie von einer Straffung der Geldpolitik durch z. B. Erhöhung der Zinssätze oder Reduzierung der Zentralbankbilanz ausgeht. Das Gegenteil wäre dovish (dt. taubenhaft).

Die Wirtschaftspolitik der Biden-Regierung, genannt Bidenomics (ein Portmanteau aus Biden und Economics), zeichnet sich durch Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie, Investitionen in die Infrastruktur und die Stärkung des sozialen Sicherheitsnetzes aus. Biden beschrieb seine Wirtschaftsphilosophie im Juni 2023 wie folgt: „Bei Bidenomics geht es darum, die Wirtschaft von der Mitte aus und von unten nach oben zu entwickeln, nicht von oben nach unten.“