CIO Kommentar

Carpe Diem – Zinswende gibt den Takt für 2024 vor

Das sich zu Ende neigende Jahr 2023 hat uns wieder einmal deutlich vor Augen geführt: Die Entwicklung der Kapitalmärkte ist stark geprägt von den Erwartungen der Marktteilnehmer. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, welche Entwicklung man selbst für die wahrscheinlichste hält, sondern auch, was der Markt, also der sogenannte Konsensus der Akteure, einpreist – und wie sich diese Erwartungen gegebenenfalls in den bevorstehenden Monaten verschieben könnten. Aktuell geht der Konsensus davon aus, dass die Inflationsraten im kommenden Jahr so weit rückläufig sein werden, dass die Zentralbanken sowohl in den USA als auch in Europa bereits in der ersten Jahreshälfte Zinssenkungen einleiten können. Das wiederum würde geringere Zinsen für kurzfristige Zinsanlagen, wie etwa Festgelder, mit sich bringen. Gleichzeitig dürften die Renditen von länger laufenden Anleihen sinken. Anleger, die sich als das derzeit noch höhere Zinsniveau sichern wollen, sollten daher rechtzeitig agieren.

Während die Erwartungen mit Blick auf die Zinsentwicklung mehr oder wenig einhellig sind, gehen die Prognosen bezüglich des Umfangs der zu erwartenden Zinssenkungen und dem den Zinssenkungen zugrundeliegenden wirtschaftlichen Umfeld bei vielen Marktbeobachtern mehr oder weniger deutlich auseinander. Die „Bullen“1 erwarten ein robustes wirtschaftliches Umfeld und nur moderate Zinssenkungen. Die „Bären“1 hingegen prognostizieren eine deutliche wirtschaftliche Schwächephase und gehen und von Zinssenkungen in stärkerem Umfang aus. Alternativ könnte man auch sagen, dass die Bullen darauf setzen, dass die Zentralbanken aufgrund der rückläufigen Inflationsdynamik die Zinsen senken werden, während die Bären zu wissen glauben, dass die Zentralbanken wegen einer ausgeprägten Konjunkturschwäche die Zinsen senken müssen.

Die zentrale Frage lautet also: Wie stark kühlt sich die Wirtschaft im kommenden Jahr ab? Die jeweiligen Argumente der Bullen und Bären können Hilfe bei der Einschätzung der Risiken geben. Die Bären argumentieren, dass in den vergangenen Jahrzehnten die US-Wirtschaft, die als global führende Volkswirtswirtschaft Signalcharakter hat, nach spürbaren Zinsanhebungen immer innerhalb weniger Quartale in eine Rezession abrutschte. Die Argumentation zielt also auf historische Erfahrung ab. Analysiert man aber die aktuellen Wirtschaftsdaten in den USA, zeigen sich derzeit kaum Anzeichen für einen derartigen Verlauf. Entsprechend argumentieren die Bullen, dass der aktuelle Zinszyklus dieses Mal besonders, d.h. andersartig als vergangene, sei und die US-Wirtschaft die sonst übliche Rezession vermeiden kann. Grund hierfür sind die expansive Geld- und Fiskalpolitik, die den Unternehmen und privaten Haushalten in der Anfangsphase der Coronapandemie ein spürbares „Polster“ bereiteten, das bis dato nachwirkt.

Vermutlich liegt die tatsächliche Entwicklung wie so oft irgendwo in der Mitte, zwischen den beiden Extrempositionen. Vieles deutet darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Dynamik in den USA in der Tat abkühlen dürfte – möglicherweise auch so weit, dass gegen Mitte des kommenden Jahres mit Nullwachstum oder sogar einem leichten Minuswachstum zu rechnen ist. Eine echte spürbare Rezession könnte aber ausbleiben. Ein solches Szenario wäre dann ein klassisches „Soft Landing“. 

Der Grund dafür ist, dass – statistisch gesehen – die kurzfristig wirkende Bremskraft einer strafferen Geldpolitik nicht so sehr aus dem höheren Zinsniveau resultiert, sondern aus dem Umfang und der Geschwindigkeit der Zinserhöhungsschritte selbst. Die stärksten Zinsanhebungsschritte der Federal Reserve (Fed) erfolgten aber bereits vor mehr als einem Jahr, als sie ab den Sommermonaten des vergangenen Jahres die Zinsen mehrmals hintereinander um sogar 0,75 Prozentpunkte anhob. Die US-Wirtschaft hat diese aggressive geldpolitische Straffung bislang erstaunlich gut verkraftet. In diesem Jahr erfolgten die Zinserhöhungen deutlich dosierter, und zuletzt verdeutlichte die Fed, dass sie keine weiteren Schritte einplane. Das derzeitig hohe Zinsniveau selbst entfaltet natürlich auch eine Bremswirkung. Es wäre aber einigermaßen erstaunlich, wenn sich nun bei dem zugegebenermaßen hohen, aber unveränderten Zinsniveau plötzlich beschleunigt Spannungen in der Wirtschaft zeigen würden, während letztere unter der Belastung stark steigender Zinsen stabil geblieben ist. Das „Soft-Landing“-Szenario („weiche Landung“) erscheint deswegen durchaus wahrscheinlich.

Und selbst wenn die wirtschaftliche Abkühlung doch deutlicher zutage treten sollte, als der Konsensus dies derzeit erwartet, bleibt als beruhigende Feststellung, dass auch die Bären keine tiefe und anhaltende Rezession in den USA erwarten. Im Gegenteil, selbst einige Bären erwarten im Jahr 2025 Wachstumsraten in den USA in der Größenordnung des Potenzialwachstums2. Das bedeutet, dass selbst in einem weniger günstigen Szenario mit Volatilität, wohl aber nicht mit einem anhaltenden Abwärtstrend an den Aktienmärkten zu rechnen wäre, denn die meisten Aktieninvestoren würden eine zeitlich begrenzte und in ihrer Schwere überschaubare Delle vermutlich einfach aussitzen.

Welche Implikationen ergeben sich aus diesen Überlegungen für die Anlagestrategie? Zunächst erscheint der Unterschied im Renditepotenzial zwischen Renten und Aktienmärkten nicht mehr so groß wie in den vergangenen Jahren. Das ist eine gute und beruhigende Nachricht, denn damit rückt die bekannte und etablierte langfristig-orientierte Multi-Asset-Anlagestrategie, also die Veranlagung in unterschiedliche Anlageklassen wie Aktien und Anleihen, wieder ins Zentrum der Überlegungen. Die Zeiten, in denen man sich in wenig bekannten Nischen der Märkte nach Renditepotenzial umsehen musste, um nicht ins Hintertreffen zu geraten, sind erst einmal vorbei. Mit dem höheren Renditeniveau können die festverzinslichen Teile des Portfolios wieder auskömmliche Performancebeiträge liefern. Durch die Umschichtung von Vermögen aus Festgeldanlagen in länger laufende Rentenpapiere kann das Wiederanlagerisiko reduziert werden. Insbesondere Anleger und Investoren, die bereits in den kommenden Monaten mit Zinssenkungen rechnen, können eine solche Umschichtung ins Auge fassen. Ein sinkendes Renditeumfeld könnte darüber hinaus auch Kursgewinne bei Anleihen mit sich bringen. Nichtsdestotrotz ist nicht gänzlich auszuschließen, dass die Markterwartungen wieder drehen und ein Schwenk in der Geldpolitik länger als derzeit vermutet auf sich warten lassen könnte, auch wenn die Risiken für ein solches Szenario abgenommen haben.

Darüber hinaus sehen wir für Aktien im Basisszenario für das kommende Jahr – trotz unserer Einschätzung einer potenziell starken Performance von Rentenpapieren und des bereits angesprochenen Risikos einer begrenzten Wachstumsdelle – ein höheres Renditepotenzial. Deswegen sollte man auch die Aktienseite der Portfolios nicht vernachlässigen, ohne dabei ein selektives Vorgehen aufzugeben. Eine Investition in Aktien von Unternehmen aus sehr zyklischen Branchen erscheint aufgrund der erwarteten Wachstumsabkühlung noch etwas zu früh. Solche Aktien könnten eventuell im Verlauf der zweiten Jahreshälfte in den Fokus geraten, sollte die Abkühlungsphase dann hinter uns liegen. Länger als gemeinhin erwartet höhere Zinssätze könnte das Bewertungswachstum jedoch bremsen. Im Falle einer langanhaltenden, tiefen Rezession (von der wir aktuell nicht ausgehen) würden die Kurse von Aktien unter Druck geraten und könnten deutlich unter den gesteckten Ertragserwartungen liegen.

Im Rentenbereich erscheinen angesichts eines moderaten, aber stabilen Wirtschaftswachstums insbesondere Unternehmensanleihen mit guter Bonität (Investment Grade) attraktiv. Auch hier gilt, dass es für aggressivere Positionierungen, etwa im Segment der Hochzinsanleihen, vermutlich noch zu früh ist. Das Risiko einer spürbaren wirtschaftlichen Abkühlung, das auch die Renditeaufschläge von Unternehmensanleihen mit guter Bonität nach oben treiben könnte, schätzen wir derzeit als gering ein. Im Währungsbereich ist wegen der vermutlich halbwegs synchron verlaufenden Zinssenkungspolitik über die Währungsräume der großen Industrienationen hinweg nicht mit signifikanten Währungsschwankungen zu rechnen, wobei der Euro 2024 ein moderates Aufwärtspotenzial gegenüber dem US-Dollar haben könnte. 

Das heißt: Vieles spricht unserer Einschätzung nach dafür, dass Anleger und Investoren vorsichtig optimistisch aufs neue Jahr blicken können. Die Aussichten für die wichtigsten Anlageklassen erscheinen trotz zahlreicher Herausforderungen jedenfalls durchaus konstruktiv.

 

 

Manuela D’Onofrio, Head of Group Investment Strategy
Philip Giskdakis, Chief Investment Officer Germany, UniCredit Bank GmbH (HypoVereinsbank)
Alessandro Caviglia, Chief Investment Officer Italy, UniCredit SpA
Oliver Prinz, Co-Chief Investment Officer of UniCredit Bank Austria AG and Schoellerbank AG

Die Optimisten an der Börse werden sinnbildlich „Bullen“ (Stiere) genannt und sind der festen Überzeugung, dass die Kurse ansteigen werden. Der Bulle ist als Symbol gewählt, da er mit den Hörnern immer von unten nach oben stößt. Als Gegenteil hierzu sieht man den „Bären“, der mit der Tatze von oben nach unten schlägt, als Zeichen für fallende Kurse.

Potenzialwachstum gilt in einer Volkswirtschaft als die langfristige Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts bei optimaler Auslastung der vorhandenen Kapazitäten.