CIO Kommentar

Gratwanderung

Manuela D‘Onofrio
Head of Group
Investment Strategy

Die Sommerpause ist vorbei, und ich hoffe Sie, liebe Leser, konnten sich erholen und entspannen. An den Finanzmärkten hingegen war von einer Pause nicht viel zu spüren, wie ein Blick auf die Zinslandschaft deutlich macht. Der Juli war geprägt von deutlich sinkenden Renditen. Bis Anfang August fielen die Renditen in Europa und den USA auf einen temporären Tiefpunkt. Die 10-jährige Rendite von Bundesanleihen lag beispielsweise bei knapp unter 0,8% und die von US-Treasuries bei etwa 2,6%. Diese Entwicklung wurde getragen von der Hoffnung, dass die deutliche Straffung der geldpolitischen Bedingungen durch die Notenbanken von USA und EU Wirkung zeigen und die Inflationsdynamik dämpfen würde. Dieser Sichtweise folgend wäre ein großer Teil der notwendigen Zinserhöhungen zur Eindämmung der Inflation bereits implementiert. Weitere (überschaubare) Zinsschritte würden bis etwa zum Jahreswechsel folgen, müssten dann aber möglicherweise bereits im kommenden Jahr zurückgenommen werden, nachdem sich die Inflationsdynamik stabilisiert hätte. Diese Hoffnung beflügelte auch die Aktienmärkte: Sie legten in Europa und den USA deutlich zweistellig zu.

Philip Gisdakis
CIO UniCredit Bank GmbH
(HypoVereinsbank, Deutschland)

Im Laufe des Augusts setze sich dann allerdings ein anderes Narrativ an den Märkten durch. Die Zentralbanken müssen weiter an der Zinsschraube drehen und die Zinsen stärker erhöhen, als das bisher erwartet wurde. Bis August war die Erwartung an den Märkten, dass für die USA Zinserhöhungen bis zum Ende des Jahres auf etwa 3-3,5% ausreichen dürften, um die Preissteigerungsrate perspektivisch auf ein verträgliches Niveau zu bringen. Für die EZB waren die Erwartungen dieser sogenannten „Terminal Rate“, also der erwartete zyklische Hochpunkt des Zinsanhebungszyklus, bei etwa 1,5%, und sollte auch um den Jahreswechsel hin erreicht werden. Nun liegen die Erwartungen bezüglich der Terminal Rate um 100Bp höher: Für die US Federal Reserve (Fed) demnach bei 4,5% und für die EZB bei 2,5%, und es wird erwartet, dass die Zinsanhebungen deutlich bis in das Jahr 2023 hineinreichen werden.
Nun könnte man denken, dass diese jüngsten Zinsanhebungserwartungen nicht mehr so stark ins Gewicht fallen. Immerhin sind seit Jahresbeginn die geldpolitischen Bedingungen erheblich gestrafft worden. In den USA beispielweise waren die Leitzinsen zu Jahresbeginn noch bei 0%; sie sind seither schon erheblich angehoben worden. Spielt es da eine Rolle, ob die Zinsen in den USA nun auf 3,5% oder auf 4,5% angehoben werden, könnte man geneigt sein zu fragen. Es macht aber in der Tat einen gewichtigen Unterschied, denn mit den jüngsten Signalen der Verantwortlichen von Fed und EZB wird deutlich, dass der Inflationsbekämpfung eine so herausragende Bedeutung zukommt, dass eventuelle Sorgen bezüglich der wirtschaftlichen Konsequenzen – also Rezessionsrisiken – hintenanstehen müssen. Denn werden die Zinsen so stark angehoben, wie jüngst eingepreist wurde, würden die Zentralbanken das Zinsniveau deutlich in den restriktiven Bereich heben. Mit anderen Worten: Die Zentralbanken sind bereit, die Wirtschaft insgesamt abzukühlen. Diese Bereitschaft und die verbalen Einlassungen, dass die Märkte nicht mit schnellen Zinssenkungen rechnen sollten, auch für den Fall, dass die Inflationsdynamik abnimmt, haben das Kapitalmarktgefüge im August nachhaltig verändert.
Die Renditen im August sind entsprechend spürbar angestiegen: die 10-jährige Rendite von deutschen Bundesanleihen beispielsweise von etwa 0,8% auf 1,75%. Zum Vergleich: Vor einem Jahr stand diese Rendite noch bei -0,3%. Und auch in den USA ist die 10-jährige Rendite um fast 100Bp angestiegen – von 2,6% auf etwa 3,5%. Diese Entwicklung hat ihre Spuren an den Aktienmärkten hinterlassen. Die Bluechip-Indizes in Europa und den USA sind wieder in Richtung ihrer temporären Tiefststände im Juni/Juli gefallen, haben diese aber bisher noch nicht erreicht.
Wie könnte es vor diesem Hintergrund in der Wirtschaft und an den Kapitalmärkten weitergehen? Zunächst haben sich die Wachstumserwartungen angesichts der hawkischen Haltung der Zentralbanken und der Sorgen bezüglich der Energieversorgung in Europa im kommenden Winter spürbar abgekühlt. Entsprechend sind die Konsensschätzungen auf die Erwartung einer moderaten Rezession in Europa eingeschwenkt. Für das laufende dritte Quartal wird nunmehr vom Konsensus ein Nullwachstum für die Eurozone erwartet und für das vierte Quartal sogar eine moderate Kontraktion von 0,3%. Diese negative Dynamik sollte bis in das erste Quartal des kommenden Jahres, für das ein Minus von 0,2% vom Konsensus erwartet wird, andauern. Bereits für das zweite Quartal 2023 wird wieder mit einer Erholung in der Eurozone gerechnet. Auch für die USA haben sich die Konsenserwartungen für die kommenden Quartale spürbar abgekühlt; negatives Wachstum wird aber bisher noch nicht erwartet. Insgesamt ist die Erwartungslage also, dass eine Rezession, wenn sie denn kommt, zeitlich begrenzt und nicht besonders tief sein sollte.

Für die Aktienmärkte relevant ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich die Gewinnerwartungen der Unternehmen weiter entwickeln werden. Diese waren im Verlauf dieses Jahres sowohl für Europa als auch die USA erstaunlich robust. Zuletzt hat sich die Stimmung etwas abgekühlt, was aber nur die Erwartungen an die Gewinne in diesem Jahr betrifft. Letztere haben für die Bewertung allerdings eine abnehmende Bedeutung. Die Gewinnerwartungen für 2023 zeigen sich nach wie vor sehr robust. Ein wichtiger Faktor für die Stimmung in der Wirtschaft und an den Märkten wird in den kommenden Wochen die Energieversorgung und die Kosten für Energie sein. Sollte die gefürchtete Gasmangellage (aus der die Notwendigkeit von Gasrationierungen erwachsen würde) nicht eintreten, und danach sieht es aus, denn die Gasspeicher sind mittlerweile fast vollständig gefüllt, dann würde das die Belastungen deutlich reduzieren. Eine vollständige Entwarnung kann aber (noch) nicht gegeben werden, da die Gasspeicher allein die Versorgung durch den gesamten Winter nicht sicherstellen können. Eine wichtige Rolle wird aber auch das Wetter im Winter spielen. Viel wird viel davon abhängen, wie hart der Winter sein wird.

Alles in allem stellt sich die Situation kurz vor dem vierten Quartal schwächer dar, als wir gehofft hatten – wirklich kritisch sehen wir sie aber nicht. Eine Wachstumsdelle um die Jahreswende ist wahrscheinlicher geworden. Sie sollte aber zeitlich begrenzt und nicht besonders tief ausfallen. Im Frühling könnte es dann bereits wieder deutlich freundlicher aussehen.