CIO Kommentar

Warten auf Rückenwind

Das erste Halbjahr 2024 neigt sich langsam, aber sicher dem Ende zu und die Kapitalmarktentwicklung in den ersten Monaten des Jahres unterscheidet sich merklich von dem Szenario, das zum Ende des vergangenen Jahres erwartet wurde. Damals wurde über Rezessionsrisiken in den USA debattiert. Zeitweise waren bis zu sieben Zinssenkungen der US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) bis zum Ende des Jahres 2024 eingepreist. Von Rezessionsrisiken in den USA spricht derzeit kaum noch jemand, und angesichts der robusten US-Konjunktur, die sich auch über eine langsamere Normalisierung der Inflation manifestiert, wurde ein großer Teil der ursprünglich eingepreisten Zinssenkungsfantasien wieder ausgepreist. Mitunter wurde unlängst von einigen Marktbeobachtern sogar wieder über mögliche neuerliche Zinsanhebungen seitens der Fed spekuliert. 

Bemerkenswert ist insbesondere das Bild, das sich ergibt, wenn man die Performance der Rentenmärkte mit denen der Aktienmärkte seit Jahresbeginn vergleicht. Euro-Staatsanleihen haben im Schnitt eine negative Gesamtperformance – also Kursänderungen plus Zinseinkünfte – von im Schnitt rund -1,5 %, während die US-Staatsanleihen sogar eine negative Gesamtperformance von fast -2,0 % aufweisen (siehe Tabelle). Europäische Aktien hingegen haben seit Jahresbeginn um fast 8 % zugelegt und US-amerikanische um fast 9 % (siehe Tabelle). Auch die innereuropäische Entwicklung kann sich sehen lassen. Der DAX legte um rund 11,5 % zu, und die Performance des breiten italienischen Aktienmarkts war sogar noch erfreulicher (siehe Tabelle). Gleichzeitig ist die Rendite von 10-jährigen deutschen Bundesanleihen von knapp unter 2 % zum Ende 2023 auf aktuell etwa 2,5 % gestiegen, und die Rendite der entsprechenden 10-jährigen US-Treasuries hat von unter 4 % auf 4,5 % zugelegt (siehe Tabelle). Renditen anderer Euro-Staatsanleihen sind ebenfalls angestiegen, wie das Beispiel der 10-jährigen italienischen Staatsanleihen zeigt (siehe Tabelle), wenn auch weniger deutlich als deutsche und US-amerikanische.

Wie passen diese Entwicklungen zusammen vor dem Hintergrund, dass in den vergangenen Jahren steigende Renditen an den Anleihemärkten in der Regel eine Belastung für Aktienmärkte waren, und die Euphorie zum Ende des vergangenen Jahres in erster Linie durch die Hoffnung auf rasche und umfangreiche Zinssenkungen seitens der großen westlichen Zentralbanken (insbesondere der Fed) genährt wurde? Zwei Dinge sind aus unserer Sicht von zentraler Bedeutung.

Erstens, die Inflationsüberraschungen in den USA, die dazu geführt haben, dass die Märkte baldige und deutliche Zinssenkungen der Fed wieder ausgepreist haben, zeichnen das Bild einer starken US-Wirtschaft. Trotz des hohen Zinsniveaus in den USA brummt die Konjunktur, und US-Unternehmen schaffen nach wie vor überraschend viele neue Arbeitsplätze, wenngleich die Dynamik zuletzt nachgelassen hat. Diese Entwicklung unterstreicht, dass sich die Fed in der komfortablen Situation befindet, die Zinsen derzeit nicht dringend und zeitnah senken zu müssen. Sie kann weiter abwarten und die Wirtschaftsdaten der kommenden Monate beobachten. Gleichzeitig bedeutet eine brummende Wirtschaft hohe Gewinne für die US-Unternehmen – und somit gute Aussichten für Aktionäre.

Der zweite Faktor, der für eine Bewertung der Entwicklung an den Aktienmärkten trotz hoher Zinsen wichtig ist, ist eine Änderungen in der geldpolitischen Herangehensweise der Zentralbanken. In der Vergangenheit haben diese sich für ihre geldpolitischen Entscheidungen primär an ihren eigenen mittelfristigen Inflationsprojektionen, also beispielsweise über Zeiträume von ein bis zwei Jahren, orientiert. Dabei wurden anstehende Änderungen in geldpolitischen Steuerungsgrößen wie den Zinssätzen zunächst an Änderungen der eigenen Prognosen zu Inflation, Wirtschaftswachstum etc. geknüpft. Der zukünftige Pfad von Zinsentscheidungen war entsprechend für Anleger gut prognostizierbar. Mit dieser hohen Prognostizierbarkeit und Transparenz ging aber auch eine hohe Bedeutung selbst kleinerer Veränderungen in der Erwartungshaltung einher. Die mitunter zögerlich anmutende Haltung der Zentralbanken erwies sich in den Zeiten der Post-Corona-Inflationsschocks als unzureichend. Viel Zeit verstrich zwischen dem Beginn des Inflationsschubs und dem Einschwenken der Zentralbanken auf einen entschlossenen Inflationsbekämpfungsmodus, da man aufgrund der eigenen Inflationsmodelle von einem vorübergehenden Anstieg der Teuerungsrate ausging. Auf die Kritik an der Zögerlichkeit trotz bereits hoher Inflationsraten reagierten die Zentralbanken mit einem Umschwenken in ihrer Methodik. Anstatt, wie in der Vergangenheit, geldpolitische Entscheidungen an (gut prognostizierbare) ökonomische Modelle zu knüpfen, scheinen die Zentralbanken momentan ihre Entscheidungen von den monatlich veröffentlichten Inflationsstatistiken1 abhängig zu machen. Diese Statistiken aber sind volatil und enthalten erratische Komponenten (bzw. sind statistisch „verrauscht“2).

In der Folge wird die Geldpolitik für Anleger und Investoren weniger prognostizierbar. Das erhöht zwar einerseits die Unsicherheit an den Märkten, andererseits messen die Marktteilnehmer aber nun auch der kurzfristig höheren Unsicherheit offenbar geringere Bedeutung zu. Denn diese Unsicherheit resultiert nicht etwa aus einer inkohärenten und uneinigen Zentralbank, sondern schlicht daraus, dass die Zentralbanken im aktuellen Umfeld mehr Wert darauf legen, dass sich die abkühlende Inflationsdynamik auch in den volatilen Monatsdaten manifestiert. Anders ausgedrückt: Die Anleger scheinen weniger daran interessiert zu sein, den exakten Beginn des Zinssenkungszyklus prognostizieren zu können. Viel wichtiger ist, dass der erwartete Pfad der Inflationsnormalisierung intakt bleibt und sich die Wirtschaft gleichzeitig nicht zu stark abkühlt. Beide Bedingungen scheinen derzeit erfüllt zu sein, weswegen die Aktienmärkte relativ entspannt auf die zuletzt gestiegenen Renditen reagiert haben.

Die jüngsten Wirtschaftsdaten zeigen, dass diese Sichtweise durchaus gerechtfertigt ist. Jüngste US-Arbeitsmarkt- und Konjunkturdaten deuten auf die erwünschte Abkühlung hin, ohne jedoch Alarmsignale hinsichtlich Rezessionsrisiken auszulösen. Und auch die Bilanzberichtssaison für das erste Quartal bestätigt die positive Kursentwicklung in den letzten Monaten. So haben die großen am Kapitalmarkt notierten US-Unternehmen, die bisher zum ersten Quartal berichtet haben, im Durchschnitt etwa Gewinnsteigerungen in Höhe von 5 % zu verzeichnen. Europäische Firmen hingegen haben zwar leicht rückläufige Gewinne aufzuweisen, dennoch berichteten auch diese im Schnitt spürbar bessere Zahlen als erwartet. Sollten die Konsensus-Schätzungen3 richtig liegen, sind bei den Unternehmensgewinnen in den nächsten Jahren deutliche Steigerungen zu erwarten. In den kommenden zwei Jahren (also 2025 und 2026) rechnen die Märkte mit zweistelligen Gewinnwachstumsraten in den USA. Für Europa sind die entsprechenden Erwartungen zwar etwas verhaltener – im Schnitt knapp unter 10 % – aber auch solche Wachstumsraten sollten die Aktienkurse unterstützen. Ein interessantes Detail ist, dass die mitunter besonders kritisch beäugten deutschen Unternehmen für 2025 und 2026 vergleichbar hohe Gewinnwachstumserwartungen haben. Lediglich in diesem Jahr dürfte das Plus bei den Gewinnen in Deutschland spürbar niedriger ausfallen als in den USA.

Insgesamt deutet die Lage also auf freundliche Aktienmärkte in den kommenden Quartalen hin. Nichtdestotrotz bevorzugen wir eine ausgewogene Gewichtung von Aktien und Anleihen. Dies liegt an zwei Faktoren. Zum einen ist unser Basisszenario – wie oben dargestellt – zwar positiv, die angedeuteten Risiken sollte man aber nicht außer Acht lassen. Ein wesentliches Risiko resultiert aus unserer Sicht aus der überraschenden Stärke der US-Konjunktur. Dass die Wirtschaft jenseits des Atlantiks den hohen Zinsen in erstaunlicher Weise widersteht, könnte daran liegen, dass das Zinsniveau noch immer nicht restriktiv genug ist, um die Inflationsdynamik schnell genug abzukühlen. Mit anderen Worten: Es könnte sein, dass die Fed mit ihrer aktuellen Geldpolitik zwar bremst, aber noch nicht stark genug, um die Inflation in einer akzeptablen Zeit auf das Zielniveau von 2 % zu drücken. Das wäre zwar – wie oben dargelegt – ein Zeichen der Stärke der US-Wirtschaft. Die in diesem Fall notwendigen zusätzlichen Zinserhöhungen würden die Märkte aber unvorbereitet treffen und dürften für zeitweilige Kursabschläge sorgen, von denen sich auch die europäischen Märkte vermutlich nicht abkoppeln könnten.

Zum anderen legen jährliche Gewinnsteigerungserwartungen von 8-10 % zwar ein Renditepotenzial von Aktien in ähnlicher Größenordnung nahe, allerdings haben die Märkte mit ihrer Rallye in den vergangenen Monaten dieses Potenzial (zumindest teilweise) bereits vorweggenommen. Darüber hinaus weisen Anleihen ein Renditepotenzial auf, das zwar unter dem Potenzial von Aktien liegen dürfte, sich risikoadjustiert im Vergleich zu Aktien aber grundsätzlich interessant darstellt (auch wenn in einem Risikoszenario länger hochbleibende oder sogar steigende Zentralbankzinsen wohl erneut mit steigenden Renditen und damit Kursverlusten einhergehen könnte). Mit anderen Worten: Anleger und Investoren sollten bei ihren Investitionsüberlegungen für Multi-Asset-Portfolios weder Aktien noch Anleihen ignorieren.

 

 

 

Manuela D’Onofrio, Head of Group Investment Strategy

Philip Giskdakis, Chief Investment Officer Germany, UniCredit Bank GmbH (HypoVereinsbank)

Alessandro Caviglia, Chief Investment Officer Italy, UniCredit SpA

Oliver Prinz, Co-Chief Investment Officer of UniCredit Bank Austria AG and Schoellerbank AG

Dieser Ansatz wird mitunter auch datenabhängig (“data dependent”) genannt. Diese Begrifflichkeit ist allerdings etwas unzulänglich, denn auch eine modellgetriebene Methodik ist datenanhängig. Vielmehr geht es neuerdings darum sich von kurzfristigen und mitunter störungsanfälligen Daten abhängig zu machen.

Der Begriff “Rauschen” entstammt ursprünglich der Physik, in der man darunter allgemein eine Störgröße mit breitem unspezifischem Frequenzspektrum versteht.

Die Konsensus-Schätzung ist der Median in der Verteilung der einzelnen Schätzungen. Der Median ist der Wert, der genau in der Mitte einer Datenreihe liegt, die nach der Größe geordnet ist. Er halbiert die Datenreihe, sodass eine Hälfte der Daten unterhalb und die andere Hälfte oberhalb des Medians in der geordneten Reihe liegt.