CIO Kommentar

Künstliche Intelligenz – ein Game Changer?

Nach dem fulminantem ersten Halbjahr 2023, das neben der durch den Hype um künstliche Intelligenz (KI)1 angefeuerten Aktienmarktrallye auch einige Aufreger-Themen zu bieten hatte (insbesondere die US-Regionalbankenkrise und den US-Schuldenstreit), richtet sich der Blick von Anlegern und Investoren nun auf das zweite Halbjahr und die spannende Phase nach der Sommerpause.

In den kommenden Monaten stehen wichtige Zentralbankentscheidungen bevor, die das Marktgeschehen maßgeblich beeinflussen dürften. Gemäß Konsensus erwartet der Kapitalmarkt, dass die Federal Reserve (Fed) Ende Juli einen weiteren Zinsschritt nach oben um 25 Basispunkte (Bp) vornehmen wird. Für die Europäische Zentralbank (EZB) werden noch zwei weitere Zinsschritte erwartet, jeweils einer um 25 Bp im Juli und September. Demnach dürften beide Zentralbanken in Kürze am Ende ihres Zinserhöhungszyklus angekommen sein. Sollte sich die Inflationsdynamik nicht wie erwartet abkühlen, besteht allerdings das Risiko, dass weitere Zinsschritte notwendig werden könnten.

Wichtig für Anleger ist aber nicht nur der Pfad zum Zinsgipfel, sondern auch das, was geschehen könnte, wenn dieser erreicht ist. Die Märkte gehen nämlich davon aus, dass der geldpolitische Schwenk nicht lange auf sich warten lassen dürfte: Für die Fed erwarten sie bereits zu Beginn des kommenden Jahres eine erste Zinssenkung, gefolgt von fünf weiteren, die den Zentralbanksatz bis zum Ende des kommenden Jahres von derzeit über 5 % auf unter 4 % sinken lassen würden. Für die EZB sind ebenfalls im ersten Halbjahr 2024 Zinssenkungen eingepreist. Sie werden begleitet von impliziten Markterwartungen, dass die Inflationsrate in Europa und den USA im Laufe des kommenden Jahres – ohne spürbaren Wachstumseinbruch – in Richtung der Zielmarke von 2 % sinken sollte. Für die Eurozone wird 2024 sogar mit einer leichten Beschleunigung des Wirtschaftswachstums gerechnet.

Angesichts der optimistischen Konsensuserwartungen, die den aktuellen Entwicklungen an den Aktienmärkten zugrunde liegen, zeigen sich einige Anleger besorgt, dass mögliche Enttäuschungen hinsichtlich der erwarteten Zinssenkungen zu negativen Marktreaktionen führen könnten. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass eine Verschiebung der zu erwartenden Zinssenkungen um einige Monate die Aktienmärkte nicht zwangsläufig belasten muss. Das eigentliche Risiko besteht aus unserer Sicht darin, dass sich die Wirtschaft, insbesondere in den USA, stärker abkühlt als erwartet und die Fed gezwungen sein könnte, die Zinsen schneller zu senken. Mit anderen Worten: Es geht weniger um das Timing von Zinssenkungen, sondern um das wirtschaftliche Umfeld, in dem diese stattfinden. Rasche Zinssenkungen aufgrund einer spürbaren Rezession („Hard Landing“) in den USA sind auch aus unserer Sicht aber nur ein Risiko- und kein Basisszenario.

Nichtsdestotrotz sollten Anleger die Risiken im Auge behalten. Klar ist, dass die kräftige Rallye bei US-Technologiewerten stark von der Euphorie im Bereich der KI getrieben wurde. Die Rallye wurde zwar zum Ende des zweiten Quartals etwas breiter. Dennoch geht der Löwenanteil der Halbjahresperformance am US-Aktienmarkt auf die „Glorreichen Sieben“ (dazu zählen die sieben US-amerikanischen Technologie-Giganten Alphabet, Amazon, Apple, Nvidia, Meta, Microsoft und Tesla) zurück. Aus dieser Konzentration auf wenige US-Aktien, die zwischenzeitlich außergewöhnliche Bewertungsniveaus erreicht haben, resultiert ein Rückschlagsrisiko, falls es zu Enttäuschungen oder Phasen der Unsicherheit kommt.

Die jüngsten Entwicklungen zeigen noch einmal deutlich, dass für den mittel- bis langfristigen Vermögenserhalt bzw. -aufbau eine breite Diversifizierung im Aktienportfolio über unterschiedliche Unternehmen, Sektoren und Regionen hinweg grundsätzlich dazu beitragen kann, das Gesamtrisiko zu mindern und potenzielle Verluste abzufedern. Das kann ein diversifiziertes Portfolio in Märkten mit hoher Konzentration allerdings – wie aktuell im US-Aktienmarkt – bisweilen auch Performance im Vergleich zu einem Benchmark-Index kosten.

Trotz der angeführten Risiken, die sich durch eine umfangreiche Diversifizierung reduzieren lassen, bleiben die Aussichten für Anleger aus unserer Sicht insgesamt positiv, sofern sich die Inflationsdynamik weiter abkühlt. In den USA mehren sich die Anzeichen für eine solche Entwicklung sichtbar. Dies gäbe den Zentralbanken Spielraum für Zinssenkungen und sollte auch die Wirtschaftsaktivität moderat beschleunigen. Neben den angesprochenen Entwicklungen im Bereich KI, von denen auch in Zukunft insbesondere US-Technologiewerte profitieren dürften, eröffnen auch andere Investitionsvorhaben Chancen für Anleger. Hierzu zählen insbesondere die Transformation der Energieversorgung hin zur Klimaneutralität, welche durch entsprechende Programme in  Europa und den USA gefördert werden. Insbesondere europäischen Industrieunternehmen, die im Bereich Anlagenbau und Infrastruktur tätig sind, sollten diese zugutekommen. Und das erste Halbjahr 2023 hat (wieder einmal) gezeigt, dass Aktienmärkte trotz großer Herausforderungen eine starke Performance liefern können.

Bezüglich der Asset-Allokation ist aber neben den skizzierten Chancen und Risiken bei Aktien ein weiterer Faktor zu beachten: die deutlich gestiegenen Anleiherenditen. Die Renditeanstiege, die im vergangenen Jahr zu erheblichen Kursverlusten bei Anleihen geführt haben, verringern nun den Abstand zwischen den zukünftig zu erwarteten Renditen von Aktien und Anleihen. Angesichts des geringeren Risikos und der mittlerweile auskömmlichen Renditen von Anleihen sollte die Asset-Allokation von Aktien und Anleihen noch sorgfältiger abgewogen werden. Auch vor dem Hintergrund, dass zukünftige Zinssenkungen, auch wenn diese bereits jetzt erwartet werden und somit eingepreist sind, das Potenzial haben, langlaufende Renditen noch etwas zu senken.

Unsere aktuelle neutrale Positionierung bezüglich Aktien spiegelt also nicht eine skeptische oder verhaltene Sicht auf Aktien wider, sondern eine Risiko-Rendite-Abwägung in einem Umfeld, das wieder positive Realrenditen – also inflationsadjustierte Renditen – mit länger laufenden Anleihen ermöglicht. Insgesamt sollte sich das Investmentumfeld aus unserer Sicht mittelfristig konstruktiv darstellen.

 

 

Manuela D’Onofrio, Head of Group Investment Strategy
Philip Giskdakis, Chief Investment Officer Germany, UniCredit Bank GmbH (HypoVereinsbank)
Alessandro Caviglia, Chief Investment Officer Italy, UniCredit SpA
Oliver Prinz, Co-Chief Investment Officer of UniCredit Bank Austria AG and Schoellerbank AG

Künstliche Intelligenz (engl. artificial intelligence oder AI) bezeichnet menschenähnliches Denken oder Handeln eines Computers bzw. Roboters oder einer Maschine. Dabei lernt das System aus seinen Fehlern und kann ohne erneute Programmierung auf eine gleiche Aufgaben- oder Problemstellung anders reagieren. Bislang befinden sich viele der Anwendungen aber noch in der Entwicklung.