CIO Kommentar

Die Uhr tickt

Die aktuellen Diskussionen der Marktteilnehmer sind geprägt von einer Reihe von Risiken. Dazu zählen die notwendige Anhebung der Schuldenobergrenze in den USA, Rezessionsgefahren aufgrund der stark gestiegenen Zinsen (insbesondere für die USA wird die Rezessionswahrscheinlichkeit als substanziell angesehen), die anhaltend hohe Inflation, aber auch geopolitische Faktoren.

Trotz dieser Risikofaktoren zeigen sich die Kapitalmärkte in den letzten Wochen erstaunlich robust: Europäische Aktien (gemessen am MSCI Europe) haben kürzlich ein neues Jahreshoch erreicht, und auch das Allzeithoch von Anfang 2022 ist in greifbarer Nähe (siehe Tabelle). Wie lässt sich Stärke der Kapitalmärkte trotz der Omnipräsenz der Risikofaktoren einordnen? Vernachlässigen die Märkte hier nicht substanzielle Risiken?

Die Sorgen sind nicht leicht von der Hand zu weisen. Analysiert man einzelne Marktsegmente, die sehr spezifisch auf bestimmte Risikofaktoren reagieren, erkennt man durchaus eine Reflektierung der Risiken. Als Beispiel seien hier nur die Verwerfungen infolge der Schuldenobergrenze in den USA am US-Dollar-Geldmarkt genannt. US-Finanzministerin Janet Yellen warnte unlängst, dass die außerordentlichen Maßnahmen, die seit Beginn des Jahres herangezogen werden, um die Regierung zahlungsfähig zu halten, bereits am 1. Juni ausgeschöpft sein könnten. Treasury Bills, also Geldmarktpapiere der US-Bundesregierung, die Fälligkeiten bis zum 30. Mai haben, zeigen deutlich niedrigere Renditen als solche, die zwei Tage später fällig werden, also am 1. Juni. Dieser deutliche Renditesprung repräsentiert eine Prämie für das Risiko, dass es um diesen eventuell wichtigen Tag herum zu Zahlungsverzögerungen bzw. Störungen kommen könnte. Die Renditekurve zeigt aber auch, dass es sich bei der Frage um die Anhebung der US-Schuldenobergrenze um ein temporäres Problem handeln dürfte, denn mit längeren Laufzeiten reduzieren sich die Renditen der entsprechenden Papiere wieder.

Das zeigt, dass sich die Märkte der Risiken durchaus bewusst sind, sie durch mögliche temporäre Verwerfungen aber offensichtlich hindurchschauen. Ein Blick auf die Konsensschätzungen für das Wirtschafts- und Unternehmensgewinnwachstum lässt erkennen, warum dies der Fall ist.

Für das Wirtschaftswachstum in Europa und den USA wird zwar sowohl für das aktuelle Jahr als auch für die kommenden beiden Jahre keine dynamische Erholung erwartet, eine spürbare Abkühlung der Wirtschaft steht aber auch nicht auf der Agenda. So werden für das aktuelle Jahr für Europa und die USA Wachstumsraten zwischen 0,5 % und 1 % erwartet. Diese sollten sich in den kommenden Jahren auf 1-2 % beschleunigen. Auf Quartalsbasis sieht der Konsensus für die USA im zweiten Halbjahr 2023 zwar eine leichte Kontraktion, ihr Ausmaß dürfte aber nicht nennenswert ausfallen.

Die Gewinnerwartungen an den Aktienmärkten spiegeln diese Sichtweise wider. Die Gewinne von Unternehmen der großen europäischen und US-Aktienindizes dürften sich zwar seitwärts entwickeln, damit aber auch auf dem relativ hohen Niveau des vergangenen Jahres verbleiben. In den nächsten beiden Jahren sollte das Gewinnwachstum dann wieder anziehen, um 6-7 % in Europa bzw. 9-10 % in den USA. Darüber hinaus scheint die Phase der negativen Gewinnrevisionen (d.h. die Reduktion der aktuellen Gewinnprognosen durch die Analysten) abgeschlossen. Zum Teil sind sogar schon wieder positive Revisionen sichtbar.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Einschätzung an den Märkten ist die Entwicklung der Inflation und die Geldpolitik der Zentralbanken. Die Inflationsdynamik kühlt sich zwar ab, aber nicht so rasch, wie noch vor einigen Monaten erhofft. Allerdings dürften die Federal Reserve (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB) auf die Perspektive von ein bis zwei Jahren ihre Inflations-Zielniveaus von 2 % erreichen. Die Fed scheint den Höhepunkt des Zinsanhebungszyklus bereits erreicht zu haben und die EZB kurz davorzustehen. Vermutlich werden im Euroraum noch ein bis zwei Zinsschritte je 0,25 % anstehen, im Juni und eventuell auch im Juli. Nach dem (baldigen) Erreichen des Höhepunkts im Zinsanhebungszyklus rückt an den Finanzmärkten zunehmend die Frage, wann die Zentralbanken die Zinsen wieder senken (müssen), in den Mittelpunkt des Interesses. Unsere Erwartung: nicht so schnell wie vom Markt erhofft. Man könnte sogar sagen: Hoffentlich müssen Fed und EZB ihre Zinsen nicht so bald senken, denn angesichts der zwar rückläufigen aber immer noch zu hohen Inflation dürften Zinssenkungen nur im Falle von spürbar ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklungen (Rezession) eintreten.

Nichtsdestotrotz erzeugen die Risikofaktoren eine gewisse Vulnerabilität von riskanten Anlagen, insbesondere bei höher bewerteten Aktien, etwa am US-Markt. Hohe Bewertungen reduzieren einerseits das kurzfristige Kurssteigerungspotential, da ein Beitrag zu steigenden Kursen aufgrund eines Anstiegs der Bewertung weniger wahrscheinlich ist. Andererseits erhöhen sie das Rückschlagsrisiko im Krisenfall. Europäische Aktien weisen mit Blick auf die Bewertungen zwar eine geringere Vulnerabilität auf, die Gewinnwachstumschancen von US-Unternehmen scheinen aber höher. In der Gesamtschau aller Faktoren erscheint derzeit eine vorsichtige Anlagestrategie mit neutraler Aktienquote aus unserer Sicht am geeignetsten. Aufgrund der gestiegenen Renditen sind aber auch Investitionen in Rentenpapiere durchaus interessant. Für Investitionen am US-Dollar-Rentenmarkt gilt dabei, dass aufgrund der massiv inversen Zinskurve (kurze Renditen sind deutlich höher als langlaufende) das kurze Ende der Kurve durchaus attraktiv erscheint.

Insgesamt gilt, dass man sich trotz einer kurzfristig etwas vorsichtigeren Anlagestrategie keine großen Sorgen machen muss. Rückschläge bei Anlagen mit einem attraktiven Profil können durchaus für Zukäufe genutzt werden. Die taktische Geldanlage sollte aber auch pfadabhängig gestaltet werden. So können starke kurzfristige Kursbewegungen, insbesondere im Kontext des US-Schulden-Showdowns, die Möglichkeit zu taktischen Manövern, etwa Gewinnmitnahmen, bieten.

 

Manuela D’Onofrio, Head of Group Investment Strategy
Philip Giskdakis, Chief Investment Officer Germany, UniCredit Bank AG (HypoVereinsbank)
Alessandro Caviglia, Chief Investment Officer Italy, UniCredit SpA
Oliver Prinz, Co-Chief Investment Officer of UniCredit Bank Austria AG and Schoellerbank AG