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Ukraine-Krieg als Katalysator für die Energiewende?

Während die Finanzmärkte derzeit eine der kompliziertesten Phasen der jüngeren Geschichte durchleben, haben Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine und seine Folgen die Energie- und Klimapolitk mehr denn je in den Mittelpunkt der politischen Diskussionen gerückt. Die Europäische Union (EU) will so schnell wie möglich raus aus fossilen Energien, d.h. Öl, Gas und Kohle, nachdem der Kreml letztere als politische Waffe einsetzt und die hohen Energiepreise1 die Inflation anheizen. Die Herausforderung, schnell Alternativen zu entwickeln, ohne einerseits die Energieversorgung zu gefährden und anderseits die eigenen Klimaziele zu untergraben, ist groß. Kurzfristig scheint sich hier ein Spannungsverhältnis aufzutun: Die hohen Energiepreise hindern die Politik (vorerst) daran, fossile Brenn- und Kraftstoffe mit dem Ziel der Treibhausgasreduktion noch weiter zu verteuern2. Langfristig jedoch dürfte die Transformation zu einem Energiesystem auf Basis erneuerbarer Energien, das unabhängig von fossilen Energieimporten ist, auch die europäische Energiesouveränität stärken. Eröffnet die energiepolitische „Zeitenwende“ auch Chancen bzw. Opportunitäten beim Investieren?

ERNEUERBARE ENERGIEN DANK INDUSTRIEPOLITISCHER INITIATIVEN AUF WACHSTUMSKURS

Der weltweite Energieverbrauch hat sich allein in den letzten vier Jahrzehnten mehr als verdoppelt, und bis dato wird die Energieerzeugung von fossilen Brennstoffen beherrscht: Erdöl, Kohle und Erdgas machen noch immer rund 80 % der zur Versorgung der Weltwirtschaft benötigten Primärenergie3 aus. Der Krieg in Russland aber hat die Industriepolitik auf beiden Seiten des Atlantiks neu belebt. In den USA wirkt der „Inflation Reduction Act“, der milliardenschwere Steueranreize für erneuerbare Energien vorsieht, als zusätzlicher Wachstumsmotor. Berücksichtigt man auch den „Infrastructure Investment and Jobs Act“ und den „CHIPS4 Act“, dürften sich die durchschnittlichen jährlichen Ausgaben der US-Bundesregierung zur Bekämpfung des Klimawandels in diesem Jahrzehnt im Vergleich zu den 2010er Jahren mehr als verdreifachen. In Europa will die Europäische Kommission mit dem REPowerEU-Plan5, der bis 2030 Investitionen in Höhe von 300 Mrd. Euro6 vorsieht, die Transformation des Energiesystems beschleunigen. Dann sollen insgesamt 45 % der Energie in der EU (statt wie bisher vorgesehen 40 %) aus erneuerbaren Quellen kommen. Die installierte Solar-Leistung soll sich dabei auf 600 Gigawatt zu vervierfachen. Zusätzlich soll die zusätzliche Senkung des Energieverbrauchs durch Energieeffizienzmaßnahmen7 von 9 % auf ­13 % steigen.

Trotz der globalen unsicheren Lage bleiben erneuerbare Energien also auf Wachstumskurs, und die Dynamik hat sogar zugenommen. Ende 2021 betrug die weltweite Erzeugungskapazität aus erneuerbaren Energien knapp 8.000 Terawatt-Stunden (TWh), eine Steigerung um rund 6 % (siehe Grafik 1). Obwohl die Wasserkraft mit mehr als 4.000TWh nach wie vor den größten Anteil an der weltweiten erneuerbaren Erzeugungskapazität aufweist, dominieren Solar- und Windenergie bei den neu installierten Stromerzeugungskapazitäten. Die EU hat seit Beginn des Kriegs in der Ukraine laut einer aktuellen Studie der Organisationen Ember und E3G8 so viel Strom aus Wind und Sonne produziert wie noch nie. Zwischen März und September waren es 345TWh; das entspricht einem Anteil von 24 %, verglichen mit 21 % im Vorjahreszeitraum.

ERNEUERBARE ENERGIEN ERWEISEN SICH IN DER ENERGIEKRISE ALS ZUNEHMEND WETTBEWERBSFÄHIG

Während die Wettbewerbsfähigkeit der fossilen Brennstoffe unter den hohen Preisen für Kohle, Öl und Gas leidet, ist bei der Stromerzeugung aus regenerativen Energien dank günstigerer Anlagenpreise, höherer Wirkungsgrade, Größenvorteilen und besseren Finanzierungsbedingungen für Projekte ein langfristiger, kontinuierlicher Trend sinkender Kosten9 zu beobachten (siehe Grafik 2), der schneller vonstatten geht, als in vielen Modellrechnungen vor Jahren vorhergesagt. Dadurch hat sich ihre Wettbewerbsfähigkeit kontinuierlich verbessert. Diese Entwicklung dürfte anhalten, denn durch das Hochskalieren der Technologien sollten die Kosten weiter sinken.

Eine im Juli von der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (IRENA) veröffentlichte Studie10, die aufzeigt, welche Rolle kosteneffiziente erneuerbare Energien bei der Bewältigung der heutigen Energie- und Klimaprobleme spielen, kommt zu dem Schluss, dass schon vor dem Einmarsch Russlands in der Ukraine fast zwei Drittel der im Jahr 2021 neu installierten erneuerbaren Energien geringere Kosten11 aufwiesen als die weltweit billigste kohlebefeuerte Option in der G-20. Die Lebensdauerkosten12 (pro kWh) der neuen Solar- und Windkraftkapazitäten, die 2021 in Europa installiert wurden, werden der Studie zufolge im Jahr 2022 im Durchschnitt mindestens vier- bis sechsmal niedriger sein als die Grenzkosten der fossilen Brennstoffe.

In Zeiten, in denen die die Energiemärkte in Europa extreme Preisschwankungen erleben13 und insbesondere der europäische Großhandelspreis für Gas Ende August ein neues Allzeithoch erreichte (siehe Grafik 3), erhöht sich die Attraktivität der erneuerbaren Energieerzeugung zudem dadurch, dass sie dazu betragen kann, die Volatilität an den Energiemärkten insgesamt zu verringern. Denn zum einen sind die Preise für erneuerbare Energien im Vergleich zu den Preisen für fossile Brennstoffe per se stabiler und zum anderen dürften erneuerbare Energien den Großteil des Energieverbrauchs in den (stark regulierten) Stromsektor verlagern, der in der Vergangenheit recht stabile Energiepreise hervorgebracht hat. Die Ersetzung der Importe fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien verbessert auch dahingehend die Versorgungssicherheit, dass Wind- und Solarenergie fast immer im Inland erzeugt und verbraucht werden. Das bedeutet, dass sie von geopolitischen Schocks und Preisschwankungen nicht so stark betroffen sind wie fossile Brennstoffe.

UNTERNEHMEN MIT TECHNOLOGIEN FÜR DIE ÖKONOMISCH-ÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION WERDEN PROFITIEREN

Angesichts der jüngsten geopolitischen Verwerfungen erscheinen die Energiewende und damit einhergehende Investitionen in erneuerbare Energien dringender denn je. Der Übergang in eine Welt mit Netto-Null-Emissionen ist nicht nur klimapolitisch geboten, sondern auch ein strategischer Schlüssel: zum einen, um international vereinbarte Klimaziele zu erreichen und gleichzeitig die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern, zum anderen, weil der beschleunigte Umstieg auf erneuerbare Energien der angebotsgetriebenen Inflation (auch „cost-push inflation“ genannt) insbesondere in Europa entgegenwirken sollte. Zwar gehen etwa Kohlekraftwerke14 in Deutschland (vorübergehend) wieder ans Netz. Der Preisanstieg für fossile Brennstoffe aufgrund des strukturellen Ungleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage dürfte dem Umstieg auf erneuerbare Energien aber weiteren Auftrieb geben. Nicht zuletzt wegen der hohen Emissionshandelspreise15 erscheint es unwahrscheinlich, dass Kohle (russisches) Gas langfristig ersetzen kann. In diesem Rahmen stellen (westliche) Energieunternehmen die Weichen für Investitionen und legen so neue Energie-Versorgungswege für die kommenden Jahre fest.

Weltweit soll sich der Anteil regenerativer Energien an der Energieerzeugung bis zum Jahr 2050 auf zwei Drittel verdoppeln. Das dürfte auch Auswirkungen auf die Rohstoffproduktion haben: Fossile Brennstoffe wie Öl, Kohle und Gas wären langfristig die Verlierer; (Edel)Metalle wie Kupfer, Eisenerz, Nickel, Zink, Lithium und seltene Erden, die für die Energiewende in großer Menge benötigt werden, sollten hingegen Rückenwind bekommen. Tatsächlich erwartet die Weltbank16, dass die Produktion von Mineralien wie Graphit, Lithium und Kobalt bis 2050 um fast 500 % steigen könnte, um den wachsenden Bedarf an sauberen Energietechnologien zu decken. Sie schätzt, dass über drei Mrd. Tonnen Mineralien und Metalle benötigt werden, um Wind-, Solar- und geothermische Energie sowie Energiespeicherung zu nutzen. Die Internationale Energieagentur (IEA) glaubt, dass die Nachfrage nach einzelnen Mineralien wie Lithium sogar um das 40-fache steigen könnte. Wenn das Produktionswachstum nicht mit der Nachfrage Schritt hält, dürfte es einen kontiniuierlichen Anstieg der Metallpreise geben. Die Transformation der Energieversorgung sollte sich also sowohl auf die (Edel)Metallpreise als auch die Aktienkurse der Produzenten mittel- bis langfristig positiv auswirken. Darüber hinaus steht nach einem Jahrzehnt der Dominanz von verbraucherorientierten Technologieunternehmen zu erwarten, dass Unternehmen, die innovative, technologische Lösungen für die ökonomisch-ökologische Transformation ermöglichen, in besonderem Maß von klimapolitischen Initiativen profitieren. Sie bergen daher mit Blick auf die (nachhaltige) Anlagestrategie und die entsprechende Portfolio-Zusammenstellung ein großes Potenzial.

1Die Energiepreise stiegen laut Eurostat im September um 40,8 % (nach 38,6 % im Vormonat); sie trugen zu 36 % zur hohen Gesamtinflation in der EU bei.

2Die Verschiebung der für den 1. Januar 2023 geplanten Erhöhung des CO2-Preises in Deutschland in den Sektoren Verkehr und Wärme um ein Jahr ist dafür symptomatisch.

3Primärenergie ist die von noch nicht weiterbearbeiteten Energieträgern stammende Energie. Primärenergieträger sind beispielsweise Steinkohle, Braunkohle, Erdöl, Erdgas, Wasser, Wind, Kernbrennstoffe und Solarstrahlung.

4CHIPS steht für “Creating Helpful Incentives to Produce Semiconductors and Science Act” und soll die Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und nationale Sicherheit der USA stärken.

5REPowerEU: Ein Plan zur raschen Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland und zur Beschleunigung des ökologischen Wandels, Mai 2022 (Link)

6Die EU will zudem mit dem europäischen Chip-Gesetz 43 Mrd. Euro an politikgesteuerten Investitionen mobilisieren und so nach eigener Aussage ihre technologische Führungs­rolle bei Mikrochips stärken.

7Das Europäische Parlament, welches das Erneuerbare-Energien-Ziel von 45 % unterstützt, hob das Effizienzziel sogar noch weiter auf 14,5  % an. Die Trilog-Verhandlungen zwischen Rat, Parlament und Kommission laufen.

8More renewables, less inflation: restoring EU economic stability through investment in renewables, Oktober 2022 (Link)

9Empirically grounded technology forecasts and the energy transition, September 2022 (Link)

10Renewable Power Generation Costs in 2021, Juli 2022 (Link)

11Die Berechnung der Kosten stützt sich auf fünf Indikatoren: Ausrüstungs­kosten, Projektkosten, feste Finanzierungs­kosten, Kapazitätsfaktor nach Projekt und Stromgestehungs­kosten (engl. Levelized Cost of Electricity oder Energy bzw. abgekürzt LCoE)

12Die Lebensdauerkosten sind jene Kosten, die über den gesamten Lebenslauf eines Produktes von der Idee über die Entwicklung, Fertigung und Nutzung bis zur Entsorgung oder zum Recycling anfallen. Sie entstehen direkt (beispielsweise als Betriebskosten) oder indirekt (etwa für Transporte) und umfassen auch Kosten, die externen Umwelteffekten zugeschrieben werden.

13Die EU-Kommission stellte am 18. Oktober neue Vorschläge vor, wie sie die stark gestiegenen Strom- und Gaspreise in den Griff bekommen will. Sie beinhalten gemeinsame Gaskäufe, weniger Verbrauch und einen neuen Marktindex gegen starke Schwankungen.

14Nach wochenlangem Streit in der Bundesregierung hat Kanzler Olaf Scholz per grundgesetzlicher Richtlinienkompetenz zudem den Weiterbetrieb von drei deutschen Atomkraftwerken bis April 2023 angeordnet.

15Der Europäische Emissionshandel (EU-ETS) ist seit 2005 das zentrale Klimaschutzinstrument der EU. Mit ihm sollen die Treibhausgas-Emissionen der teilnehmenden Energiewirtschaft und der energieintensiven Industrie reduziert werden.

16Minerals for Climate Action: The Mineral Intensity of the Clean Energy Transition, Mai 2020 (Link)