CIO Kommentar

Bereit machen zur Landung

Manuela D‘Onofrio
Head of Group
Investment Strategy

Ein nervenaufreibendes erstes Halbjahr 2022 ist zu Ende gegangen. Es war geprägt durch den Krieg in der Ukraine, der einher ging mit Sorgen bezüglich der sicherheitspolitischen Lage in Europa, der Gewährleistung der Energieversorgung und eines weiteren Inflationsschubs, auf den die Zentralbanken mit deutlicher Zinsanhebung und anderen Maßnahmen reagiert haben. Der Erwartungslage an den Kapitalmärkten nach wird die US amerikanische Zentralbank Federal Reserve bis Ende des Jahres das Zinsniveau auf 3,5% anheben (wohlgemerkt kommend von einem Nullzinsumfeld im vergangenen Jahr). Und nach mehr als einem Jahrzehnt der lockeren Geldpolitik hat nun auch die Europäische Zentralbank (EZB) den angekündigten Einstieg in die geldpolitische Normalisierung über eine Zinswende eingeleitet. Das Ausmaß der ersten Zinsanhebung, um 50 Basispunkte (Bp), kam überraschend, weil die EZB zuletzt einen Zinsschritt um 25Bp in Aussicht gestellt hatte. Mit einem Schlag schafft sie damit die Negativzinsen beim Einlagesatz ab, die 2014 unter dem damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi eingeführt worden waren. Die Entscheidung ist zugleich ein klares Signal, dass die EZB nun entschieden versucht, die hohe Inflation einzudämmen.

Philip Gisdakis
CIO UniCredit Bank GmbH
(HypoVereinsbank, Deutschland)

Ob der kommende Zinsschritt im September 25Bp oder 50Bp ausfallen wird, ließ EZB-Präsidentin Christine Lagarde bewusst offen: Der EZB-Rat werde erst unmittelbar vor der Sitzung am 8. September entscheiden, und zwar abhängig von den dann vorliegenden Daten und Prognosen. Die EZB flankiert die Zinswende mit einem neuen Anti-Fragmentierungsinstument: Das sogenannte Transmission Protection Instrument (TPI) soll sicherstellen, dass die Zinsniveaus der einzelnen Euroländer sich nicht zu weit auseinanderbewegen. Die Kaufvolumina des Programms werden nicht ex ante beschränkt, und Voraussetzung für dessen Einsatz ist, dass wesentliche finanzpolitische Kriterien erfüllt sind. Sowohl Zinserhöhung als auch TPI wurden einstimmig beschlossen, was auf einen sorgfältig ausgehandelten Kompromiss im EZB-Rat hindeutet.

Unterdessen haben sich die globalen Lieferkettenengpässe zwar in den vergangenen sechs Monaten etwas entspannt, aufgrund der Coronabedingten Lockdowns in China jedoch nicht in einem Maße, wie man das zum Ende des vergangenen Jahres erhoffen konnte. Die Einschränkungen aufgrund der Lieferkettenengpässe bleiben nach wie vor auf einem historisch hohen Niveau, was insbesondere das verarbeitende Gewerbe in Europa zu spüren bekam.

An den Kapitalmärkten haben diese Entwicklungen deutliche Spuren hinterlassen. Bemerkenswert sind dabei im historischen Kontext nicht unbedingt die Aktienmärkte. Die haben zwar mit Abschlägen von rund 20% in Europa und den USA zu kämpfen; im Vergleich zu anderen Krisen in den letzten 20-30 Jahren sind diese aber eher noch moderat. Bemerkenswert ist diese Krise im Wesentlichen aufgrund der massiven Kursverluste bei Anleihen, die mit den steigenden Zinsen einher gehen. Gemessen an marktüblichen Bond-Indizes haben Staatsanleihen in der Eurozone seit Auflage des Euros noch nie solche Kursabschläge zu verzeichnen gehabt. Und in den USA gibt es in den letzten 50 Jahren – soweit reichen die Daten von gängigen Indizes auf US-Staatsanleihen zurück – keine Phase mit derart heftigen Kursabschlägen. Verschärft wird die Lage durch die Gleichzeitigkeit der Kursverluste bei Anleihen und Aktien in Europa und den USA. Für Anleger gab es kaum ein Entrinnen, denn der Rückzugsort in den traditionell sicheren Hafen der Staatsanleihen war eben auch mit massiven Kursverlusten verbunden. Europäische Anleger konnten Kursverluste in außereuropäischen Anlagen durch Währungskursgewinne zum Teil ausgleichen. Davon haben auch Investitionen in Gold profitiert, die ja üblicherweise in USD notieren, denn der Goldpreis lag ja zum Ende des zweiten Quartals auch moderat im Minus.

Besonders bemerkenswert sind auch die Details der Kursentwicklungen bei Aktien. Diese haben zwar in Europa und den USA, wie bereits dargelegt, deutliche Abschläge zu verzeichnen, die zugrunde liegenden Gewinnerwartungen sind aber weiter gestiegen. Viele Analysten gehen davon aus, dass der größte Teil der Unternehmen in der Lage sein wird, steigende Input-Preise an ihre Kunden weitergeben zu können. Diese daraus resultierenden höheren Gewinnerwartungen reflektieren die Tatsache, dass Investitionen in die Realwirtschaft ein gewisses Maß an Inflationsschutz bietet. Erst in den letzten Wochen hat sich die Dynamik der erwarteten Gewinnsteigerungen etwas abgeflacht. Diese Entwicklung (fallende Kurse bei gleichzeitigen spürbaren Anstiegen der Gewinnerwartungen) hat zu deutlich fallenden Kurs-Gewinn-Verhältnissen geführt. Letztere liegen insbesondere für Europa nicht mehr weit weg von Tiefstständen in der Finanzkrise und der Staatsschuldenkrise. Aktien sind also aus Bewertungsperspektive betrachtet zumindest nicht mehr teuer.

Ob eine sich abschwächende Konjunkturdynamik mit niedrigeren Wachstumserwartungen bis hin zu Rezessionsrisken in den USA und Europa zu rückläufigen Gewinnerwartungen führen wird, bleibt noch abzuwarten. Bzgl. der Rezessionsrisiken bleibt aber festzuhalten, dass wesentliche Treiber dieser Risiken durch die relevanten handelnden Akteure in den USA und Europa zumindest teilweise kontrollierbar bleiben. In den USA resultieren die Rezessionssorgen aus dem erwarteten Zinsanhebungszyklus der Fed – also aus der Sorge, dass letztere die mit Ihren Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation das Wirtschaftswachstum abwürgen könnte. Sollte sich aber eine spürbare Abkühlung der wirtschaftlichen Dynamik einstellen, ist ebenfalls mit einer Abkühlung des Inflationsdrucks zu rechnen. Dies sollte der US Zentralbank wiederum mehr Spielraum bei der Geldpolitik geben und dazu führen, dass eine mögliche Rezession in den USA (die nach wie vor nicht unser Basisszenario ist) nicht dramatisch ausfallen sollte.

Und auch in Europa stellen sich die Rezessionsrisiken, die aus einer möglichen Versorgungslücke bei Gas insbesondere für die deutsche Wirtschaft resultieren könnten, nicht mehr so dramatisch dar wie noch zu Beginn des Ukraine-Krieges. Zuletzt verschob sich zwar der Fokus des öffentlichen Diskurses wieder auf dieses Thema (wegen der geplanten Abschaltung der Nord Stream 1 Pipeline aus Wartungsgründen und der Sorge, dass letztere durch Russland aus politischen Gründen nicht wieder ans Netz genommen werden könnte); die Versorgungssituation hat sich aber aufgrund gestiegener Füllstände der Gasspeicher in Deutschland entspannt. Zwar waren die Gasspeicher im April zu einem geringeren Grad gefüllt als im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahr zum gleichen Zeitpunkt. Da aber in den Folgemonaten deutlich mehr Gas eingespeichert wurde als sonst, wurde dieser Rückstand aufgeholt und der aktuelle Füllstand entspricht dem entsprechenden Mittelwert. Mehr noch: Der aktuelle Speicherstand (etwa 65%) ist nur noch geringfügig niedriger als der Höchstspeicherstand im Jahr 2021 (etwa 72%).

Diese Entwicklung sollte das Risiko einer Gasversorgungslücke im Winter 2022/23 und damit auch das eines adversen wirtschaftlichen Szenarios dämpfen. Sie bedeutet allerdings nicht, dass die Risiken damit gebannt sind. Die sogenannte Gemeinschaftsprognose 2022 von fünf führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten beziffert in einer Simulationsrechnung das Risiko einer Gasversorgungslücke in Deutschland mit 20%, eine deutliche Reduktion des Risikos im Vergleich zu der entsprechenden Situation im April. Es gibt also keinen Grund zur Panik. Es gibt aber allerdings auch keinen Anlass zur Nachlässigkeit, denn wenn Europa unbeschadet durch diese Krise kommen und das Heft des Handels in den eigenen Händen behalten möchte, sind weitere Schritte notwendig, um die Energieversorgung – auch durch einen reduzierten Gasverbrauch der Industrie und des privaten Konsums – gewährleisten zu können. Hieraus könnte in den Wintermonaten noch politischer Druck entstehen.

Sollten sich die Rezessionsrisiken in Europa und den USA nicht materialisieren (wovon wir bislang ausgehen) und sowohl die Gaskrise als auch die Inflationsbekämpfung durch die Notenbanken keine übermäßigen konjunkturellen Bremsspuren zeigen, könnten riskante Anlagen wie Aktien wieder in den Fokus der Anleger geraten. Denn insbesondere Aktien sind wegen der Kursabschläge der vergangenen Monate gepaart mit weiter gestiegenen Gewinnerwartungen im historischen Kontext günstig.