Gasmangellage vorerst abgewendet

Gut gefüllte Erdgasspeicher schaffen Puffer für den nächsten Winter

Vieles deutet darauf hin, dass die Europäische Union (EU) eine Gasmangellage in diesem Winter1 abgewendet hat. Dank einer Kombination aus Energiesparmaßnahmen, legislativen Weichenstellungen und zuvorderst mildem Wetter hat sich der Erdgasverbrauch in der EU in diesem Winter 2022/23, verglichen mit früheren Perioden, bislang in Grenzen gehalten. Zu Beginn des neuen Jahres herrschten auf dem gesamten europäischen Kontinent rekordverdächtige Temperaturen2. Und die europäischen Gasspeicher sind für diese Jahreszeit, in der die EU-Länder ihre Reserven normalerweise anzapfen, auf einem historisch hohen Stand. Damit tritt eine der Hauptquellen potenzieller Abwärtsrisiken für die EU-Wirtschaft, die vielen Beobachtern und politischen Entscheidungsträgern im vergangenen Jahr lange Zeit Sorgen bereitet hat, zumindest vorerst in den Hintergrund. Und die hohen Speicherstände sollten dazu beitragen, das Risiko von Engpässen auch im kommenden Winter zu verringern.


Derzeit sind etwa 85% der Lagerkapazitäten in der EU nicht ausgeschöpft (siehe Grafik 1). Dieser Höchststand wird in der Regel jedes Jahr im Oktober erreicht, bevor die Füllstände im Verlauf des Winters allmählich zurückgehen, wenn der saisonale Bedarf gedeckt wird. Es scheint, als habe die kalte Jahreszeit noch gar nicht richtig begonnen. Bis Mai letzten Jahres lagen die Füllstände in der EU unter ihrem langfristigen Durchschnitt. Um die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern und die Versorgungssicherheit zu erhöhen, verabschiedete die EU als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine im Sommer letzten Jahres eine neue Verordnung3, die für die europäischen Erdgasspeicher vor dem Winter 2022-23 Füllstände von mindestens 80 % vorsah. Im November konnte die EU auch ihr Gaseinsparziel von 15 % übertreffen, wie aus Daten des Statistikamts Eurostat hervorgeht. 18 EU-Staaten haben mehr Gas eingespart, darunter Deutschland mit einem Rückgang von rund 25 %. Nicht zuletzt dank der außergewöhnlich milden Oktober-Temperaturen gelang es den EU-Ländern, ihre Speicher während einer Zeit zu füllen, in der sie sich in der Regel leeren. Die Schwankungsbreite an Speicherständen über EU-Länder hinweg ist allerdings erheblich. In Spanien etwa sind die Speicher derzeit zu 94% gefüllt, in Lettland hingegen noch nicht einmal zur Hälfte. Dies hängt auch mit dem Energiemix4 des jeweiligen Landes zusammen.

Die Grafik zeigt, basierend auf historischen Erfahrungswerten, auch eine prognostizierte Bandbreite für die Entspeicherung von Erdgas bis Anfang April diesen Jahres5. Die untere Grenze der Spanne für die Füllstände im April liegt dabei nahe an dem im vergangenen Jahr erreichten Niveau – unter dem langjährigen Mittel, aber über dem vom Vorjahr. Am oberen Rand der Spanne könnten die Füllstände im April bei fast 65 % der Gesamtkapazität liegen. Dies würde mit Blick auf den kommenden Winter für einen komfortablen Puffer sorgen, bevor die europäischen Länder damit beginnen, ihre Erdgasspeicher über die Sommermonate wieder aufzufüllen. Während die dargestellte Spanne auf historischen Erfahrungswerten beruht, würde ein Szenario, bei dem neben durchschnittlichen Temperaturen angenommen wird, dass die Zuflüsse von Erdgas (einschließlich LNG6) konstant auf dem Niveau von Dezember 2022 bleiben (als die Zuflüsse von russischem Pipeline-Gas sehr niedrig waren), wahrscheinlich innerhalb der dargestellten Spanne liegen.

Stabile Gasversorgungslage und geringe Nachfrage drücken die Gaspreise

Die Entwicklungen der vergangenen Monate spiegeln sich auch in den Preisen für Erdgas wider, nachdem die niederländische TTF-Benchmark seit dem Beginn des Ukrainekrieges zunächst ein extremes Auf und Ab erlebte, das Ende August letzten Jahres in einem Allzeithoch von fast 350 Euro pro Megawattstunde (EUR/MWh) gipfelte. Seit Mitte Dezember ist der TTF um mehr als 50 % und seit seinem Höchststand um mehr als 70 % gefallen (siehe Grafik 2). Insbesondere in den letzten Wochen fiel der Preis nochmal deutlich, auf den niedrigsten Stand seit Februar 2022, also noch vor dem Beginn des Krieges. Auch die Volatilität ging dank konstant hoher Füllstände der Erdgasspeicher zurück.

Allerdings liegen die Gaspreise in der EU weiterhin deutlich über dem langjährigen Durchschnitt, was nach wie vor sowohl die Kaufkraft der Haushalte als auch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen belastet. Zudem besteht das Risiko, dass sie im Jahresverlauf wieder zulegen könnten. Dafür sprechen unter anderem Russlands Drohung, die Erdgaslieferungen vollständig einzustellen und, ein angespannter globaler LNG-Markt und die abrupte Abkehr von der Null-Covid-Strategie durch die chinesische Staatsführung. Wenn Chinas Energiehunger zunimmt, reduziert dies potenziell auch die LNG-Verfügbarkeit in Europa. In der EU will man es allerdings nicht darauf ankommen lassen, dass unvorhergesehene wirtschaftliche und politische Entwicklungen wie zu Beginn letzten Jahres den Gaspreis erneut in die Höhe treiben. Daher haben sich die EU-Energieminister kurz vor Weihnachten nach monatelangem Gerangel auf einen gemeinsamen Gaspreisdeckel geeinigt. Der entsprechende „Marktkorrekturmechanismus“ sieht vor, dass der Börsenhandel mit Gas7 verboten wird, wenn der Gaspreis an der niederländischen Energiebörse drei Werktage lang über dem Wert von 180 EUR/MWh liegt und gleichzeitig 35 Euro über dem, was auf den Weltmärkten für Flüssiggas bezahlt wird. Es ist jedoch unklar, ob die Gaspreisobergrenze, sollte sie zum Einsatz kommen, tatsächlich die gewünschte Wirkung haben wird. Neben der Industrie zweifelt auch die EU-Energieregulierungsbehörde an der Wirksamkeit des Instruments.

Hoffnung auf milden Wirtschaftsabschwung

Auch wenn das Wirtschaftswachstum in der EU in den Wintermonaten schwach ausfallen dürfte, nähren unter anderem die stark gesunkenen Energiepreise (auch die Preise für Rohöl haben seit Mitte des vergangenen Jahres kontinuierlich nachgegeben, siehe Grafik 2 oben) die Hoffnung auf einen milderen Abschwung über diesen Winter als angenommen. Eine Reihe von (Früh)Indikatoren deuten darauf hin, dass sich die europäischen Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt als anpassungs- und widerstandsfähig erweisen könnten. Nachdem wir mit einer leicht defensiven Allokation ins neue Jahr gestartet sind – sowohl bezogen auf die Aktienquote als auch bezüglich der Branchenallokation – gehen wir davon aus, dass wir unsere Allokation im Laufe des ersten Halbjahres entsprechend wieder wachstumsorientierter aufstellen können. Dabei beobachten wir mit Blick auf die Vermögensverwaltung sehr genau, dass auch die europäischen Aktienmärkte zuletzt Auftrieb erhielten und ihre Rallye fortsetzten, die bereits zu Beginn des Jahres, angetrieben durch die sich abschwächenden Inflationszahlen in den USA und dem Euroraum, ins Laufen kam.

1Wir hatten bereits in unserem Monthly Outlook September 2022 auf das gesunkene Risiko einer Gaslücke hingewiesen (Link).

2In gleich mehreren Ländern Europas haben Meteorolog:innen zu Beginn des neuen Jahres die höchsten Temperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gemessen – ein Phänomen, das laut Expert:innen in das allgemeine Muster des vom Menschen verursachten Klimawandels passt.

3Eine Verordnung ist ein verbindlicher Rechtsakt, den alle EU-Länder in vollem Umfang umsetzen müssen.

4Der Energiemix bezeichnet eine Kombination verschiedener Energiequellen, welch die Energieversorgung z.B. eines Landes ausmachen.

5Die obere und untere Grenze der Spanne wurde dabei von UniCredit Research auf Grundlage der maximalen und minimalen monatlichen Entspeicherung im Zeitraum 2011-19 berechnet. Durch die Betrachtung eines so langen Zeitraums sollten sowohl extreme Aufwärts- als auch Abwärtsmuster erfasst werden können, die z.B. durch Lieferunterbrechungen oder Wetteranomalien verursacht werden.

6Die englische Abkürzung LNG steht für „Liquified Natural Gas“ und bezeichnet flüssiges Erdgas.

7Auf Drängen Deutschlands wurden Klauseln für den Fall einer Gasmangellage ergänzt: Die Preisdeckel greift nicht, wenn sich der Handel auf andere Märkte verlagert, der Gasverbrauch in der EU stark ansteigt oder es in der EU zu einer Gasmangellage kommt.