Im Fokus

Was der aktuelle US-Bärenmarkt für Anleger bedeutet

Sorgen über die anhaltend hohe Inflation, den Krieg in der Ukraine, die Unsicherheit über den Fortgang der Corona-Pandemie und nicht zuletzt das Bemühen der US-Notenbank Fed, durch eine epochale Zinswende die Inflation einzudämmen: Das ist der Mix, der den S&P 500 im Frühsommer in einen Bärenmarkt1 hat eintreten lassen.

BÄRENMÄRKTE GAB ES IN DER GESCHICHTE DER BÖRSE IMMER WIEDER

Starke Einbrüche von Aktien um 20% oder mehr sind relativ selten, dennoch gab es sie in der Geschichte der Börse immer wieder. Zwar folgen Rezessionen nicht zwingend auf Bärenmärkte; letztere können aber ein Indikator für eine bevorstehende Rezession sein. Dauer und Ausmaß von Bärenmärkten können sehr unterschiedlich sein, genauso wie ihre Ursachen – etwa exogene Ereignisse wie der Ausbruch der Corona-Pandemie oder bedeutende (geld)politische Entscheidungen. Grundsätzlich ist ein Bärenmarkt durch ein hohes Maß an Unsicherheit und die Erwartung (noch) weiter fallender Kurse gekennzeichnet. Der Kursrückgang kann entweder den gesamten Markt oder nur einzelne Sektoren bzw. Anlageklassen betreffen.
Berücksichtigt man auch das aktuelle Jahr 2022, gab es seit dem Zweiten Weltkrieg beim S&P 500 neun Rückgänge von 20% bis 40 % – und drei weitere von mehr als 40% (siehe Tabelle 1). Im Durchschnitt dauerte es ein gutes Jahr, bis sich die Kurse von diesen massiven Rückschlägen erholten.

Ende der 1960er Jahre sorgten eine schwächelnde US-Wirtschaft, eine hohe Inflation in Verbindung mit Attentaten und Unruhen sowie Spannungen in Verbindung mit dem Vietnam-Krieg für die Entwicklung eines Bärenmarktes (siehe Grafik 2); er ging mit einer milden Rezession einher. 1973 trieb das arabische Öl-Embargo die Benzinpreise in die Höhe und löste nicht nur eine zweistellige Inflation und eine Rezession, sondern auch eine Baisse am Aktienmarkt aus. Fast ein Jahrzehnt lang kämpften die USA mit einer anhaltenden Inflation und langsamem Wirtschaftswachstum. Um die Stagflation2 zu bekämpfen, zog die Fed Anfang der 1980er Jahre die Zinsen an, was in Verbindung mit einer tiefen Rezession zu einer relativ flachen Baisse am Aktienmarkt führte, die rund 21 Monate dauerte.

Der bis dato längste Bärenmarkt entstand Ende 2000, als die Dot-Com-Blase platzte und viele Tech-Unternehmen in die Insolvenz gingen; er dauerte länger als zwei Jahre. Im letzten Bärenmarkt, der durch den Ausbruch der Corona-Pandemie ausgelöst wurde, rutschte der S&P 500 zwischen 19. Februar und 23. März 2020 um rund 34% ab; die Aktien erholten sich aber innerhalb weniger Monate und legten schließlich bis zum 3. Januar 2022 um mehr als das Doppelte zu.

Das erste Halbjahr 2022 dürfte als die Periode in die Geschichte eingehen, in der die großen Zentralbanken die Öffentlichkeit auf einen steilen Zinserhöhungszyklus eingestimmt haben (in den USA wäre es sogar der steilste Zinszyklus seit Jahrzehnten), während die Inflation insbesondere aufgrund steigender Energie- und Lebensmittelpreise den höchsten Stand seit 40 Jahren erreicht hat. Rechneten die Anleger zu Beginn des Jahres noch damit, dass die Fed die Zinsen in diesem Jahr um maximal 50 Basispunkte (Bp) anheben würde, ist dieser Wert zwischenzeitlich im Juni auf fast 350Bp angestiegen. Zu Beginn des Jahres wurde nicht erwartet, dass die EZB die Zinssätze überhaupt anheben würde. Mitte Juni erreichten die Markterwartungen einen zwischenzeitlichen Höchststand von rund 200 Basispunkten.

Angesichts steigender Zinsen und einer schrumpfenden Fed-Bilanz müssen die Märkte also den Übergang von einem Jahrzehnt mit sehr niedrigen Zinsen und überschüssiger Liquidität sowie relativ geringer Volatilität zu einem wesentlich restriktiveren Liquiditätsumfeld bewältigen, während steigende Rohstoffpreise und sich ausweitende Kreditspannen die Unternehmensgewinne und das verfügbare Einkommen zusätzlich belasten. In diesem Umfeld verzeichnete der S&P 500 sein schlechtestes erstes Halbjahr seit 1970 (siehe Grafik 3).

AKTUELLE BAISSE ZEIGT MUSTER EINES ZYKLISCHEN BÄRENMARKTES

Mit Blick auf die langfristige Geschichte (unter Verwendung von US-Daten) lassen sich Bärenmärkte einer Analyse von Goldman Sachs zufolge in drei Kategorien3 einteilen, die von verschiedenen Auslösern abhängen und unterschiedliche Merkmale aufweisen:

  1. Struktureller Bärenmarkt – ausgelöst durch strukturelle Ungleichgewichte und Finanzblasen; sehr oft folgt ein “Preis”-Schock wie etwa eine Deflation
  2. Zyklischer Bärenmarkt – typischerweise eine Folge steigender Zinssätze, drohender Rezessionen und sinkender Gewinne; sie sind eine Funktion des Wirtschaftszyklus
  3. Ereignisgesteuerter Bärenmarkt – ausgelöst durch einen einmaligen “Schock”, der nicht zu einer inländischen Rezession führt (z. B. Krieg, Ölpreisschock, EM-Krise oder technische Marktverwerfungen)

Auch wenn in der aktuellen Baisse ereignisgesteuerte Einflussfaktoren (insbesondere der russische Einmarsch in die Ukraine) und Muster eines strukturellen Bärenmarktes (etwa der spekulative Anstieg bei Kryptowährungen) zu beobachten sind, weist sie mit der hohen Inflation und der eingeleiteten US-Zinswende deutliche Merkmale eines zyklischen Bärenmarkts auf. Gleichzeitig sprechen auch die immer noch sehr gesunden Bilanzen von Haushalten und Unternehmen (hohe Überschussersparnis) sowie der robuste Arbeitsmarkt für einen zyklischen Charakter. Tatsächlich hat die Sorge, dass die Fed gezwungen sein könnte, durch die Straffung ihrer Geldpolitik das Wirtschaftswachstum so stark zu drosseln, dass dadurch eine Rezession unvermeidlich ist, wesentlich zum aktuellen Bärenmarkt beigetragen. Verunsichert durch die aggressiven Schritte der Fed, die die Kreditaufnahme für Unternehmen und Haushalte verteuern, scheinen die Märkte das Risiko einer Rezession einzupreisen.

BÄRENMÄRKTE IN DER VERGANGENHEIT HÄUFIG EIN GÜNSTIGER ZEITPUNKT FÜR MITTEL- BIS LANGFRISTIGEN VERMÖGENSAUFBAU

Während Anleger Perioden hoher Volatilität und starker Kurskorrekturen tendenziell häufig zum Anlass nehmen zu verkaufen, anstatt zu niedrigen Preisen in ihr Portfolio zu investieren, kann ein ausgewogen diversifiziertes Portfolio mit hoher Qualität dabei helfen, Verluste abzufedern. Bärenmärkte waren im Übrigen in der Vergangenheit häufig ein günstiger Zeitpunkt für Anleger, um mittel- bis langfristig Vermögen aufzubauen, und die in den letzten Monaten sich sukzessive eintrübende Stimmung in Verbindung mit den steigenden Zinsen hat die Bewertung von Aktien bereits jetzt deutlich attraktiver gemacht. Wir sehen uns gut vorbereitet und positioniert, um langfristige Rendite-Chancen zu realisieren, wenn sich abzeichnet, dass wir die aktuell herausfordernde Marktphase hinter uns lassen.

Die entscheidende Frage, die sich Anleger stellen, ist, ob wir erst am Anfang eines Bärenmarktes stehen oder die Talsohle bereits durchschritten haben. Manchmal dauert die Baisse noch monatelang an, nachdem der Markt bereits um 20% gefallen ist (wie 2000/2001), manchmal ist sie nach wenigen Wochen vorbei (wie 2020). Doch was braucht es, damit die Aktienmärkte eine nachhaltige Erholung erleben? Eine Analyse von Goldman Sachs4 deutet darauf hin, dass bei früheren Korrekturen, die wie der jüngste Bärenmarkt im Wesentlichen durch eine geldpolitische Straffung ausgelöst wurden, der US-Aktienmarkt in der Regel dann die Talsohle erreichte, wenn die Fed Signale einer geldpolitischen Lockerung aussandte – noch bevor die Wirtschaft wieder ansprang. Wenn die Korrektur im Wesentlichen auf eine Straffung der Geldpolitik zurückzuführen ist, hat der Übergang zu einer weniger hawkishen5 Geldpolitik in der Regel für eine ziemlich unmittelbare Erleichterung gesorgt.

Wann der Zeitpunkt für eine solche Regime-Wende in der US-Geldpolitik kommen wird, lässt sich derzeit kaum abschätzen. Noch sind keine nachhaltigen Anzeichen für eine Trendumkehr bei der Inflation zu erkennen. Letztere unter Kontrolle zu bringen und die Preise zu stabilisieren, hat für die Fed derzeit aber oberste Priorität. Ihre Verpflichtung zur Wiederherstellung der Preisstabilität sei “bedingungslos”, betonten die politischen Entscheidungsträger der US-Notenbank unlängst in ihrem halbjährlichen Bericht über die Geldpolitik an den US-Kongress – ihr bisher nachdrücklichstes Bekenntnis zur Bewältigung des akutesten Inflationsproblems seit rund 40 Jahren.

1 Bei der Definition des Bärenmarktes wird häufig ein Rückgang von 20% gegenüber dem 52-Wochen-Hoch des Vermögenswertes als ausschlaggebend betrachtet. Die US Securities and Exchange Commission definiert einen Bärenmarkt als eine Situation, in der ein breiter Marktindex über einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten um 20% oder mehr fällt.

2 Kombination aus Stagnation und Inflation, i.e. eine konjunkturelle Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Wirtschaft nicht wächst und gleichzeitig Inflation und Unterbeschäftigung herrschen.

3 Goldman Sachs Global Macroscope (21. Juni 2022): A Bear Market Transition to the Post-Modern Cycle.

4 Goldman Sachs Global Markets Daily (23. Mai 2022): What Makes a Trough the Trough?

5 Der Begriff „hawkish” (von hawk engl. für Falke) bezieht sich auf eine wirtschaftliche Situation, in der höhere Zinssätze erwartet werden. Dies beruht auf der Annahme, dass ein Anstieg der Inflation negative Auswirkungen auf die Wirtschaft haben wird.