CIO Kommentar

Unter der Oberfläche

Manuela D‘Onofrio
Head of Group
Investment Strategy

Das erste Halbjahr 2022 war geprägt von einer Reihe von Belastungsfaktoren für Wirtschaft und Finanzmärkte.

  1. Zentralbanken sind weltweit aufgrund der anhaltend hohen Inflation auf einen geldpolitischen Straffungspfad eingeschwenkt. Insbesondere für die USA erwächst daraus das Risiko, dass die Federal Reserve mit ihren Maßnahmen das Wirtschaftswachstum deutlich – bis zu einer milden Rezession – abkühlen könnte.
  2. Der Krieg in der Ukraine dauert an und mit ihm das Risiko der Unterbrechung der Energieversorgung für Europa – ein Risikoszenario, welches angesichts der jüngsten Drosselung der Gaslieferungen Russlands an Deutschland und Italien stärker in das Bewusstsein der Anleger rückt. 
  3. Die jüngste Covid-Welle in China, auf die die chinesische Regierung mit sehr strikten Lockdown-Maßnahmen reagiert hat, bremst einerseits die Konjunktur in China (mit Auswirkungen auf die Nachfrage nach europäischen Exportgütern) und belastet andererseits aber die ohnehin schon angespannten Lieferketten weiter (auch das wirkt sich negativ auf Europa aus, insbesondere auf das verarbeitende Gewerbe).
Philip Gisdakis
CIO UniCredit Bank GmbH
(HypoVereinsbank, Deutschland)

Man könnte also meinen, es gäbe auf allen Seiten nur schlechte Nachrichten. Bei den vorgenannten Belastungen handelt es sich aber teilweise um externe Faktoren, welche möglicherweise auch nur temporär wirken. Bezüglich der Auswirkungen von Corona-Maßnahmen wissen wir etwa, dass sie die Wirtschaft bei adäquatem Krisenmanagement nur übergangsweise belasten und dass man mit Nachholeffekten rechnen kann, wenn die Maßnahmen wieder gelockert werden. Zwar lässt sich das Vorgehen der chinesischen Regierung mit ihrer strikten Null-Covid-Strategie und dem vergleichsweise niedrigen Impfschutz gerade bei vulnerablen Gruppen nicht direkt mit der Situation in Europa und den USA vergleichen – die Belastungen könnten länger anhalten als in den westlichen Industrienationen – dennoch lehrt die Erfahrung, dass Corona-Infektionen in Wellen kommen, die also auch wieder abebben.

Noch zu Beginn des Jahres waren die Erwartungen an das Wachstum der Wirtschaft in Europa und USA auf eine spürbare Post-Corona-Erholung ausgerichtet. Es gab starke Anzeichen, dass die Wirtschaft Tritt fasst und von spürbaren Aufholeffekten profitieren kann. Diese Erholung ist durch den Krieg in der Ukraine unterbrochen worden. Der zentrale Wirkungskanal, über den dieser Konflikt die Wirtschaft trifft, sind weiter steigende Energie- und Rohstoffkosten sowie insbesondere die Sorge, dass es zu einer Unterbrechung der Energieversorgung für diejenigen Länder kommen könnte, die stark von russischen Öl- und Gasimporten abhängen – ein Risiko, das mit den jüngsten Entwicklungen1 ein Stück näher gerückt ist. Diese Risiken sind jedoch externer Natur. Sollte sich die Situation bzgl. der Energie- und Rohstoffversorgung entspannen, könnte man durchaus mit einer Anknüpfung an die Erwartung einer Post-Covid-Erholung rechnen.

Blickt man unter die Oberfläche, erkennt man durchaus Anzeichen, die Zuversicht geben können. Insbesondere der jüngste ifo-Bericht zur Stimmung der deutschen Wirtschaft, ein wichtiges Börsenbarometer auch für die gesamte Eurozone, sendet positive Signale. Insbesondere die ifo-Reichweite zur Auftragslage der Unternehmen ist an dieser Stelle zu nennen: der Auftragsbestand der deutschen Industrie war seit Beginn der 90er nicht so hoch wie derzeit. 

Zuletzt spielt der anhaltende Inflationsdruck eine zentrale Rolle. Er führt dazu, dass die Zentralbanken die Zinsen anheben, um die Preisdynamik abzukühlen. Die Inflation in der Eurozone eilt tatsächlich von Rekord zu Rekord. Sie hat im Mai erneut einen kräftigen Satz gemacht und die Marke von 8% geknackt. Für die Bewertung der Situation ist aber die genaue Charakteristik der Inflationsdynamik ein entscheidender Faktor, denn insbesondere in Europa kommt der Preisdruck im Wesentlichen durch die gestiegenen Energiekosten und Nahrungsmittelpreise. Wenn wir die volatilsten Komponenten – Energie und Nahrungsmittel – herausrechnen, ist das Überraschende an der Kerninflation allerdings nicht der absolute Wert von fast 4%, dem höchsten gemessenen Wert seit der Einführung des Euro, sondern die Geschwindigkeit, mit der wir uns von einer durchschnittlichen Inflationsrate von rund 1,5%, die fast zehn Jahre lang anhielt, zu dem Punkt bewegt haben, an dem wir jetzt stehen.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass dieser Preiswettlauf im Sommer 2021 begann, als die Covid-bedingten Lockdowns in den meisten Industrieländern aufgehoben wurden und die Verbraucher endlich wieder in der Lage waren, ihre Häuser zu verlassen und Geld auszugeben. Wir glauben, es ist wichtig, die fundementalen Ursachen für diesen plötzlichen Übergang von einer anhaltend niedrigen Inflation, wie wir sie in den zehn Jahren vor der Pandemie erlebt haben, zu einer Situation zu verstehen, die durch ein viel höheres durchschnittliches Inflationsniveau gekennzeichnet ist. Denn so können wir besser beurteilen, wie die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in den kommenden Quartalen aussehen wird, und folglich auch ableiten, welche Anpassungen wir bei unserer Anlagestrategie vornehmen müssen.

Wie wir inzwischen alle wissen, führte die Schließung zahlreicher Aktivitäten während der Pandemie, einschließlich der Häfen und Flughäfen, zu schwerwiegenden Engpässen in den Lieferketten. Nach den Öffnungen der Post-Corona-Phase folgte daraus eine Lücke zwischen den Produktionskapazitäten der Unternehmen und der angestauten Verbrauchernachfrage. Diese Diskrepanz zwischen der robusten Nachfrage einerseits und dem schleppenden Angebot andererseits hat zu einem Preisanstieg geführt, der sich zumindest teilweise wieder auflösen dürfte, wenn die Lockdowns, insbesondere in China, endlich aufgehoben werden. In der Zwischenzeit haben viele Unternehmen zur Stabilisierung der Lieferketten damit begonnen, ihre Lieferantennetze zu diversifizieren und Maßnahmen zu ergreifen, um die Lieferentfernungen zu verringern. Dieser noch nicht abgeschlossene Prozess war und ist natürlich mit Kosten verbunden, die die Unternehmen zum Teil an die Verbraucher weitergegeben haben oder weitergeben werden.

Im Sommer 2021 begann auch die Hausse bei den Ölpreisen, die durch die Sanktionen gegen Russland noch verstärkt wurde, was dazu führte, dass sich der Rohölpreis bis heute fast verdoppelt hat. Da sich abzeichnet, dass der Hauptfaktor, der zum Wiederaufleben der Inflation geführt hat, nämlich die Lieferkettenengpässe, mit der Stabilisierung der Versorgungsketten an Bedeutung verlieren werden, ist es wichtig zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Rohstoffpreise, die für uns Europäer die Haupttreiber der Inflation sind, sinken können. Die naheliegendste Antwort ist, dass ein Ende der westlichen Sanktionen gegen Rußland zu einem erheblichen Preisrückgang bei vielen Rohstoffen, insbesondere bei Öl, Gas und Getreide, führen würde. Zum jetzigen Zeitpunkt kann aber niemand vorhersagen, wann die Sanktionen aufgehoben werden. Wir müssen uns also die Frage stellen, ob es weitere Faktoren gibt, die zu einem Rückgang der Energie- und Rohstoffpreise führen könnten.

Wir erwarten, dass die allgemeine Erhöhung der Finanzierungskosten durch die Zentralbanken, einschließlich der EZB, zu einer Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit und damit zu einem Rückgang der Rohstoffnachfrage führen werden. In Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der die Zentralbanken ihre Geldpolitik an das neue inflationäre Umfeld anpassen, kann man davon ausgehen, dass die weltweite Wirtschaftstätigkeit bald bescheidenere Wachstumsraten aufweisen wird, als man sich zu Beginn des Jahres vorstellen konnte. Ob die Landung sanft oder hart ausfällt, wird weitgehend davon abhängen, wie schnell die Inflation vor dem Heer der Zentralbanken kapituliert, die sich verpflichtet haben, die geldpolitischen Anreize abzubauen und die Preise abzukühlen.

Dabei ist wichtig zu verstehen, dass die vorgenannten Inflationstreiber Faktoren auf der Angebotsseite der Wirtschaft sind, während ein großer Nachfrageüberhang, zumindest in Europa, nicht zu verzeichnen ist. Angebotsgetriebene Inflation (auch „cost-push inflation“ genannt) ist üblicherweise aber weniger hartnäckig als eine nachfragegetriebe Dynamik (die sogenannte „demand-pull inflation“). Unter anderen deswegen sollte sich der übermässige Inflationsdruck zeitlich begrenzt entwickeln und vermutlich in den kommenden Monaten seinen Höhepunkt überschreiten. 

Die Märkte rechnen bereits wieder mit rückläufiger Inflation in den kommenden Jahren. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine Rückkehr zum ultra-niedrigen Zinsniveau der letzten Jahre zu erwarten ist. Vermutlich wird die Phase von ultra-niedrigen Inflationsraten und folglich auch von ultra-lockerer Geldpolitik der Vergangenheit angehören. Inflationsraten zwischen 2-3%, wie sie für die kommenden Jahre erwartet werden, sind für die Wirtschaft kein Problem. Im Gegenteil: Inflationsraten um 2% sind eigentlich gesund. 

Darüber hinaus zeigen sich viele Unternehmen sehr wohl in der Lage, steigende Kosten in weiten Teilen auf ihre Kunden überzuwälzen und die Margen somit konstant zu halten. Dies ist auch ein Faktor, der erklärt, warum die Erwartungen des Marktes an die Gewinnsteigerungen für Aktien immer noch erstaunlich robust sind. Berücksichtigt man diese erwarteten Gewinnsteigerungen zusammen mit den Kursabschlägen der vergangenen Monate, sind Aktien, gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), mittlerweile durchaus günstig. Auch deswegen bleiben Aktien als Geldanlage mittelfristig durchaus interessant.

1 Nachdem Gazprom bereits im Mai die Gaslieferungen in fünf EU-Staaten eingestellt hatte, hat der russische Staatskonzern unlängst auch seine Exporte in weitere Länder reduziert, darunter Deutschland, Frankreich und Italien. Dennoch ist die Energieversorgung in den betroffenen Ländern weiter gewährleistet.